37akzente 3/15 d ie Menschen in Ocote Tuma teilen ihr Leben in zwei Zeitrechnungen. In die Phase des Dunkels und die des Lichts, die Etappe der Eintönigkeit und die der Mög- lichkeiten. Eben in die Zeit vor und die nach der „Micro-Turbina“, der „kleinen Turbine“, wie sie das Kleinwasserkraftwerk nennen. „Es sind zwei verschiedene Leben“, sagt Freddy Orozco. Er ist der Vorsitzende des Komitees, das in Ocote Tuma das Kraftwerk verwaltet, mit dem sich der Alltag der Menschen so grundlegend verändert hat. Es war vor acht Jahren, als das Licht in den kleinen Weiler im Norden Nicaraguas kam. Damals lebten in dem Dorf, eingebettet in Tropenwälder und grüne Hügel, 17 Fami- lien. Heute sind es 70, Tendenz steigend. „Wir haben ein Bevölkerungswachstum von 25 Prozent im Jahr“, sagt Orozco. Dabei liegt Ocote Tuma nicht gerade am Nabel der Welt. Etwa sechs Stunden sind es mit dem Auto bis in die Hauptstadt Mana- gua, davon drei über abenteuerlich holprige und kurvige Schotterpisten. Der Weg führt vorbei an einfachen Holzhütten, Mangobäu- men und kleinen Kakao- und Bananenplanta- gen. Nicaragua ist nach Haiti das zweitärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent. Weit mehr als eine Million Menschen hier ha- ben keinen Strom. So war es auch in Ocote Tuma, bis im Jahr 2007 die Gemeinde und die Zentralre- gierung gemeinsam ein kleines Kraftwerk bauten. Dabei unterstützte die GIZ sie im Auftrag der Generaldirektion für internatio- nale Zusammenarbeit des niederländischen Außenministeriums. Oberhalb des Ortes stürzt idyllisch ein Wasserfall in die Tiefe. Also stauten die Bewohner das Wasser in ei- nem Becken, legten eine Wasserleitung ins Dorf und schlossen eine Wasserturbine an. 40.000 Dollar kostete das Wasserkraftwerk. Das Projekt ist Teil einer internationalen Initiative, die zum Ziel hat, die abgelegenen Gemeinden Lateinamerikas, Afrikas und Asiens mit nachhaltigem Strom zu versorgen. Finanziert wird sie vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gemeinsam mit der nieder- ländischen Generaldirektion und weiteren Gebern aus Norwegen, Australien, Großbri- tannien und der Schweiz. Sieben Wasser- kraftwerke sind allein in Nicaragua gebaut worden. Aber keines ist so erfolgreich wie das in Ocote Tuma. Denn der Ort hat sich seitdem neu er- funden. Täglich ziehen Menschen aus der Umgebung zu, weil auch sie von den Seg- nungen des Stroms profitieren wollen. Den Bewohnern eröffnen sich plötzlich Chancen, die sie vorher nicht hatten. An jeder Ecke eine Geschichte der Verbesserung Davon kann Victoria Jarquín erzählen. Die Frau mit der fröhlichen Ausstrahlung ist dank des Stroms von einer Hausangestellten zur Unternehmerin geworden. Ihr gehört eine „Pulpería“, eine Art Gemischtwarenla- den. Das Geschäft hat keinen Namen, über der Tür steht schlicht: „Bienvenido“, Will- kommen. An einem Dienstagmorgen hat Jar- quín gut zu tun. Eine alte Dame kauft ein kühles Getränk, ein Junge verlangt nach ei- nem Kilo Malanga, einem typischen Wurzel- gemüse der Region. Jarquín wiegt ab, steckt dem Kind das Gemüse in eine Tüte. „Neun Córdobas“, verlangt sie, rund 30 Eurocent. Jarquíns Laden hat vom Schrubber über Blusen bis zum Fleischfilet fast alles im Ange- bot. „Erfrischungsgetränke und Hühnchen gehen am besten“, sagt sie. Und beides be- wahrt sie im Kühler auf, den es nur gibt, weil das Geschäft nun Strom hat. Jarquín wurde vor 35 Jahren auf einer Farm nahe Ocote Tuma geboren. Die Men- schen standen bei Sonnenaufgang auf und gingen bei Sonnenuntergang zu Bett. Jar- quín suchte daher schon als Teenager das Weite, ging in die Kreisstadt Waslala und nahm einen Job als Hausangestellte an. Zwölf Jahre lang war sie fort. Aber als sie von dem Stromanschluss ihres Dorfes hörte, kehrte sie sofort zurück: „So eine schöne Gelegenheit musste ich einfach nutzen“, er- zählt sie. Der Vater besorgte bei der Bank ei- nen Kleinkredit, davon wurden das Haus und die ersten Waren angeschafft. Das ist jetzt vier Jahre her. Als Hausangestellte verdiente sie umge- rechnet 100 Euro, heute hat sie am Ende des Monats rund dreimal so viel in der Kasse. Manchmal sogar noch mehr. „Und ich bin meine eigene Herrin, bestimme, was ich ma- chen kann. Es ist wunderbar“, sagt sie und lacht ein ansteckendes Lachen. „Ich bin so stolz auf mein Geschäft.“ Geschichten von neuen Chancen und Verbesserungen wie die von Jarquín findet man in Ocote Tuma an jeder Ecke. Der Schuldirektor kann sie erzählen, der jetzt dank des Stroms auch abends unterrichten lässt, ebenso der Tischler, der das Dorf mit Betten und die Schule mit Pulten versorgen kann, weil er leistungsfähige strombetriebene Werkzeuge nutzt. Besonders stolz sind sie in Ocote Tuma auf ihre Gesundheitsstation. Die gibt es nur dank der Elektrizität. Ein Arzt und eine Schwester versorgen jeden Tag 80 Patienten, die oft aus der Umgebung von weither zu Fuß oder auf dem Pferd zur Sprechstunde kommen. „Wie entscheidend der Anschluss an Energie für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung einer Gemein- schaft ist, kann man in Ocote Tuma exem- » Endlich Licht: In Ocote Tuma können Kinder nun länger lernen, Geschäfte länger öffnen. MILLIONEN ERREICHT Die Initiative Energising Development schafft Zugang zu erneuerbarer Energie für Menschen, die ohne Strom leben. Seit 2005 hat sie 13,9 Millionen Menschen in 24 Ländern erreicht. Zu den vielen po sitiven Effekten gehören Verbesserungen bei der Gesundheit, etwa durch den Aus tausch von Kohleöfen. Neben Privat haushalten erhielten 16.000 soziale Ein richtungen Strom, darunter viele Schulen. www.endev.info