akzente 4/15 25 Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch wie lange nicht mehr. Worin sehen Sie die Ursachen? Viele Krisen und Konflikte haben sich verfes tigt oder sind neu ausgebrochen, sei es in Syrien, Irak, Südsudan, in Somalia oder Eri- trea. Die Liste ist lang; allein in den letzten fünf Jahren sind 15 gewaltsame Konflikte hinzugekommen. Die Menschen fliehen vor Verfolgung und Gewalt. Die größte Fluchtbe- wegung hat der Krieg in Syrien ausgelöst. Etwa vier Millionen Menschen haben Syrien verlassen; 7,6 Millionen Menschen sind in- nerhalb des Landes auf der Flucht. Zu den häufigsten Fluchtursachen gehören auch Ar- mut, Krankheiten, Hunger, eine rapid zuneh- mende soziale Ungleichheit oder der Klima- wandel. Vielerorts sind es vor allem die jun- gen Menschen, die ihr Land verlassen, weil sie dort keine Zukunftsperspektiven sehen. Welche Rolle und Verantwortung hat Deutsch- land hier? Wir müssen uns gemeinsam um das Thema Flucht und Vertreibung kümmern. Vor allem die Europäische Union steht hier vor einer großen Bewährungsprobe. Wir brauchen drin- gend eine gemeinsame Flüchtlingspolitik mit fairer Lastenverteilung. Deutschland steht dabei ganz klar zu seiner Verantwortung und handelt auch. Außen-, Sicherheits- und Ent- wicklungspolitik müssen effektiv ineinander- greifen, so wie die Bundeskanzlerin dies in ihrem Dreiklang gefordert hat: Menschenle- ben retten, Schlepper bekämpfen und Flucht ursachen reduzieren. Wie und wo engagiert sich deutsche Entwick- lungspolitik, um das Leid von Flüchtlingen zu mindern? Meine Aufgabe als Entwicklungsminister ist die Bekämpfung von Fluchtursachen. Es geht um die Verbesserung der Lebensperspektiven in den Herkunfts- und Aufnahmeländern. Ich habe dazu drei Sonderinitiativen eingerichtet, den Haushalt umgeschichtet und zusätzliche Mittel bekommen. Dieses und nächstes Jahr können wir bis zu einer Milliarde Euro in die- sen Bereich investieren. Wir setzen vor Ort eine Vielzahl von Projekten um. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Jordanien sichern wir die Wasser- und Sanitärversorgung in Ge- meinden, die Flüchtlinge aufnehmen. Im Li- banon können mit deutscher Unterstützung 80.000 Kinder die Schule besuchen. Im tür- kisch-syrischen Grenzgebiet entstehen Ge- meindezentren für Türken und Syrer. In Süd- sudan lernen Rückkehrer, sich durch Land- wirtschaft wieder selbst zu versorgen. Im Kosovo werden wir gemeinsam mit der Hand- werkskammer Dortmund junge Menschen in Kfz-Berufen ausbilden. Die meisten Menschen fliehen wider Willen. Was muss geschehen, damit sie in ihrer Heimat bleiben? Die meisten Flüchtlinge, mit denen ich ge- sprochen habe, wollen sich in ihrer Heimat eine Zukunft aufbauen. Sie fliehen aus Ver- zweiflung und Not. Viele wollen wieder zu- rückkehren, wenn es die Lebensumstände zu- lassen. Es reicht nicht, wenn wir in Europa nur über Abwehrmaßnahmen nachdenken. Wir müssen dort hingehen, wo die Krisen ihre Ursachen haben, und in Entwicklung inves tieren. Wir brauchen Wirtschafts- und Ausbil- dungsprogramme für Flüchtlinge in den Her- kunftsländern. Dazu gehören auch ein Rück- kehrerprogramm für Flüchtlinge in ihre Heimatländer und Beratungsangebote. Ent- wicklungspolitik zur Bekämpfung von Flucht- ursachen muss aber noch viel weiter gefasst sein. Es geht darum, die Globalisierung ge- recht zu gestalten, indem wir faire Welthan- delsbeziehungen schaffen. Wir brauchen so- ziale und ökologische Standards in den glo- balen Lieferketten, so dass die Menschen am Anfang des Produktionsprozesses von ihrer Arbeit leben können. Wir müssen vom Frei- zum Fairhandel kommen. Jeder Einzelne von uns kann mit seiner eigenen Konsument- scheidung dafür ein Stück Verantwortung übernehmen. Muss sich die Welt jetzt dauerhaft auf mehr Flüchtlinge als früher einstellen? Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht, acht Millionen mehr als im letzten Jahr. Die Flüchtlingskrise löst sich nicht auf, sondern sie wird immer schlimmer. Die meis ten Flüchtlinge setzen bei der Flucht ihr Le- ben aufs Spiel und erfahren großes Leid. Da- mit dürfen wir uns nicht abfinden. Wir stehen nicht hilflos vor der Situation, sondern müs- sen mit gemeinsamer Kraft die Ursachen von Flucht bekämpfen. Die Flüchtlingskrise führt uns jeden Tag drastisch vor Augen: Wenn wir Hunger und Armut nicht in den Griff kriegen, kommen die Probleme zu uns. Deswegen ist die Flüchtlingskrise für uns alle eine epo- chale Herausforderung! „Eine epochale Herausforderung“ Bundesminister Gerd Müller zur weltweiten Flüchtlingskrise und ihren Ursachen „Wir brauchen dringend eine gemeinsame Flücht- lingspolitik und eine faire Lastenteilung.“ foto:MICHAELGOTTSCHALK/photothek akzente 4/1525