Interview
„Wir wollen so viel Elektromobilität wie möglich“
Andrij Sadowyj regiert nach eigenen Worten eine der schönsten Städte der Welt und erachtet das als Privileg: Er kann eng mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammenarbeiten und Projekte vorantreiben, die dort wirklich etwas verändern. Am dringendsten braucht Lwiw im Augenblick ein besseres und nachhaltigeres öffentliches Verkehrssystem.
Stand: 31. August 2020
Wie ist es Ihnen und Ihrer Stadt bisher während der Corona-Krise ergangen?
Bisher ganz gut. Wir haben sehr früh Ausgangsbeschränkungen eingeführt. Die Infektionsrate ist stabil, und wir versuchen, so viele Menschen wie möglich zu testen. Wir haben 1.500 - 2.000 Intensivbetten bereitstehen, und dieses Niveau haben wir in den letzten Monaten auch gehalten. Alles in allem war unsere Reaktion auf die Pandemie bisher ruhig und planvoll.
Abgesehen von der Pandemie: Was sind derzeit die größten Herausforderungen für Lwiw?
Als Erstes müssen wir unser Gesundheitssystem verbessern. Lwiw hat eines der größten Krankenhäuser der Ukraine. Es ist ein gutes Krankenhaus, aber ich möchte, dass es noch besser wird – eines der besten der Welt. Die Pandemie hat gezeigt: Wenn Reisebeschränkungen gelten, können auch Menschen mit sehr viel Geld nicht mehr zu Behandlungen in andere Länder reisen. Also brauchen wir generell eine bessere Gesundheitsversorgung hier. Daran arbeiten wir.
Vor welchen weiteren Aufgaben steht die Stadt?
Wir müssen unseren öffentlichen Nahverkehr verbessern. Als ich 2007 Bürgermeister wurde, gab es im öffentlichen Verkehr nur eine Minimalversorgung, aber inzwischen macht er die Hälfte des Verkehrsaufkommens von Lwiw aus. Wir wollen das noch weiter steigern; daran arbeiten wir gerade. Im nächsten Jahr rechnen wir damit, 100 neue Oberleitungsbusse und 10 neue Straßenbahnen einsetzen zu können. Die Europäische Investitionsbank und die Internationale Finanz-Corporation unterstützen uns dabei.
Was ist der Grund für das Umschwenken – Verkehrsstaus in der Innenstadt, Luftverschmutzung oder die CO2-Emissionen?
Alle drei Faktoren. Wir haben in Lwiw eine passable Luftqualität – nicht so schlimm wie beispielsweise in Peking –, aber sie könnte besser sein. Das ist ein Beweggrund, den Verkehr nachhaltiger zu gestalten. Und natürlich machen wir uns auch Gedanken über den CO2-Ausstoß. Wir sind hier noch wenig vom Klimawandel betroffen – tatsächlich ist unser Klima sehr angenehm –, aber wir wollen auf jeden Fall die Emissionen reduzieren und darum so viel Elektromobilität wie möglich einsetzen.
Wie ist es mit dem Radfahren?
Das ist auch sehr wichtig. Im Augenblick haben wir über 100 Kilometer Radwege, unser Ziel sind aber 260 Kilometer. Wir wollen so werden wie Kopenhagen, die Fahrradhauptstadt Europas! Außerdem ermuntern wir die Menschen, so viel wie nur möglich zu Fuß zu gehen. Deshalb schaffen wir auch Raum für Fußgänger, wann immer wir Straßen ausbauen.
Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren einen Prozess der Dezentralisierung erlebt. War diese Entwicklung zum Nutzen der Städte?
Es ist auf jeden Fall der richtige Weg, denn Städte sind so unabhängiger geworden von der Landesregierung. Heute können wir mehr Entscheidungen auf lokaler Ebene treffen. Die Finanzen hingegen bleiben eine Herausforderung. Für Lwiw gilt das zwar weniger, weil wir uns um internationale Geldgeber und Entwicklungspartner bemüht haben und außerdem sehr gut mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit kooperieren, für ukrainische Städte und Gemeinden im Allgemeinen hingegen schon.
Wovon lebt denn Ihre Stadt hauptsächlich?
Von Einkommens- und Gewerbesteuer.
Das bedeutet, die Wirtschaft muss florieren, damit die Stadt angemessene Einkünfte hat. Wie sieht die Wirtschaftsstruktur in Lwiw aus?
Unsere Haupteinnahmequelle ist der Tourismus. Im letzten Jahr hatte Lwiw eine halbe Million Besucherinnen und Besucher – aus anderen Teilen der Ukraine und aus benachbarten Ländern wie Österreich, Weißrussland, Ungarn und Polen, aber auch von weiter weg wie etwa aus Deutschland, Italien und Großbritannien. Die Besucherzahlen sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Das Coronavirus hat dem natürlich vorübergehend ein Ende gesetzt, weshalb wir sehnlichst das Ende der Pandemie erwarten, damit die Touristen zurückkehren und es Restaurants, Cafés, Souvenirläden und Dienstleitungsanbietern wieder besser geht.
Abgesehen vom Tourismus – was spielt in Ihrer Stadt noch eine wichtige Rolle?
Bildung ist wichtig; hier gibt es zahlreiche Universitäten und andere Ausbildungseinrichtungen. Darüber hinaus wir haben eine leistungsstarke Lebensmittelindustrie und Maschinenbaubetriebe, besonders zur Fertigung von Oberleitungsbussen und Straßenbahnen, und Leichtindustrie. Insgesamt ist unsere Wirtschaft geprägt von kleinen und mittleren Betrieben.
Ihre Stadt liegt nur 60 Kilometer von der Grenze zur Europäischen Union entfernt. Wie wichtig ist diese Nähe für Sie?
Wir sind definitiv westlich orientiert. Ich bin für einen Beitritt zur EU. Darum möchten wir in Lwiw auch unbedingt EU-Standards in Bereichen wie Verkehr, Gesundheitswesen und Sicherheit einführen, noch bevor die Ukraine überhaupt zum Beitrittskandidaten werden kann. Aber dafür brauchen wir Unterstützung.
Nach Definition der UN sollte eine lebenswerte Stadt ökonomisch lebensfähig und politisch stabil sein, aber auch inklusiv. Wie sieht es in Lwiw mit letzterem aus?
Im Vergleich zu anderen Städten der Ukraine schneiden wir wahrscheinlich ganz gut ab. Aber osteuropäische Städte im Allgemeinen haben in Bezug auf Inklusion noch einigen Nachholbedarf. Wir arbeiten zum Beispiel hart daran, dass sich Menschen mit eingeschränkter Mobilität in unserer Stadt wohlfühlen können, aber wir haben noch viel Arbeit vor uns. Ich denke, wir sind allen gegenüber, die hier leben oder die uns besuchen, tolerant. Das liegt auch an unserer wechselhaften Geschichte: In den letzten einhundert Jahren hat Lwiw zu sechs verschiedenen Staaten gehört. Aber unsere Infrastruktur ist noch nicht so gut, wie sie sein sollte.
Sie sind seit 2007 im Amt, und haben seither alle möglichen Posten in Kiew angeboten bekommen, sogar den des Ministerpräsidenten. Dennoch haben Sie sich stets entschieden, in Lwiw zu bleiben. Warum?
Hier in meiner Heimatstadt kann ich meine Ideen in die Tat umsetzen. Als Präsident oder Kanzler sehe ich die Früchte meiner Arbeit vielleicht in fünf oder zehn Jahren. Eine Bürgermeisterin, ein Bürgermeister erlebt ihren oder seinen Einfluss jeden Tag. Außerdem ist man in Kiew viel abhängiger von Oligarchen. Hier bin ich unabhängig; lasse mich nur von den Interessen der Gemeinde leiten, die mich gewählt hat. Das macht mein Amt so einzigartig – und ich betrachte das als ein Privileg. Ich bin hier geboren, ich liebe diese Stadt und halte sie für die schönste Stadt der Welt.
Ist diese Entscheidung endgültig?
Unabhängig zu bleiben? Ja.
Nein – die Entscheidung, keinen Posten in Kiew anzunehmen.
Wir werden sehen.
Gibt es noch etwas, was Sie immer erreichen wollten, aber noch nicht geschafft haben?
Wir haben eine Menge erreicht. Als ich Bürgermeister wurde, gab es in Lwiw vier Stunden am Vormittag und vier Stunden am Abend fließendes Wasser. Jetzt funktioniert die Wasserversorgung 24 Stunden am Tag. Die Infrastruktur – Straßen, Müllentsorgung und dergleichen – war in einem schrecklichen Zustand. Jetzt läuft alles viel besser; noch nicht perfekt, aber viel besser. Eines unserer größten Probleme ist allerdings, dass alles so lange dauert, weil der Krieg im Osten des Landes an uns allen zehrt. Darum würde ich mich sehr über Frieden in der Ukraine freuen.
Und was sind Ihre Wunschträume für Ihre Stadt?
Ich möchte, dass Lwiw eines Tages in derselben Liga wie Berlin, München oder Barcelona spielt.