Interview

„Unser Essen ist nicht genug und nicht gesund“

Agnes Kalibata ist Spezialistin für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit und ehemalige Landwirtschaftsministerin Ruandas. Außerdem fungiert sie als UN-Sonderbeauftragte für den Gipfel zu Ernährungssystemen, der im September stattfinden wird. Im Interview erklärt sie, warum das bestehende System als Ganzes auf den Prüfstand muss.

Text
Interview: Friederike Bauer

Wegen der Corona-Pandemie leiden mehr Menschen an Hunger. Was wird die nahe Zukunft bringen?
Die Vereinten Nationen schätzen, dass 130 Millionen Menschen mehr wegen der Pandemie hungern. Das ist ein Albtraum, denn die Lage war schon davor schlimm. Die Corona-Krise hat sich also auf eine bereits existierende Krise gelegt.

Früher hieß es, die Erde könnte eigentlich alle Menschen ernähren. Ist dieser Satz angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung noch zutreffend?
Die Erde kann genug Essen für die derzeit etwa 7,7 Milliarden Menschen produzieren. Es ist eine Frage des Zugangs und der Qualität von Nahrung. Im Augenblick funktionieren unsere Ernährungssysteme nicht, weil sie nicht genug Nahrung für alle produzieren. Und was bei den Menschen ankommt, ist nicht gesund genug. Außerdem belasten wir die Umwelt. Das heißt, wir müssen das ganze System umbauen und in vielerlei Hinsicht nachhaltiger gestalten.

Im September wird der erste UN-Gipfel zu Ernährungssystemen stattfinden. Welche Resultate erhoffen Sie sich davon?
Wir haben uns fünf Ziele gesetzt: Zugang zu sicheren und nahrhaften Lebensmitteln für alle garantieren; auf nachhaltige Verbrauchsmuster umsteigen; umweltfreundliche Produktion fördern; faire und gleiche Lebensgrundlagen befördern und das Ernährungssystem widerstandsfähiger gegen Schocks und Stress machen. Aber ebenso wichtig ist für mich, die Botschaft zu verbreiten, dass unser Ernährungssystem in der jetzigen Form unbrauchbar ist.

An wen genau soll sich diese Botschaft richten?
An uns alle: diejenigen, die Nahrungsmittel produzieren, vermarkten oder damit handeln,  genauso wie die Endverbraucher*innen. Wir alle treffen bei jeder Mahlzeit eine Entscheidung: Essen wir Fleisch? Essen wir bewässerungsintensives Gemüse aus fernen Weltgegenden? Das sind kleine Entscheidungen, aber zusammen beeinflussen sie das System.

Für wie schwerwiegend halten Sie das Problem von Verschwendung?
Für enorm. Wir werfen jährlich Nahrungsmittel im Wert von einer Billion Dollar weg. Außerdem trägt das acht Prozent zur Menge der schädlichen Treibhausgasemissionen bei. Damit könnten wir ohne zusätzliche Emissionen eine Menge mehr Leute ernähren.

„Wir werfen jährlich Nahrungsmittel im Wert von einer Billion Dollar weg.“

Stichwort Emissionen: Der Klimawandel ist bereits im Gange. Welchen Einfluss wird er auf die Verfügbarkeit von Nahrung haben?
Wir reden viel über die Coronavirus-Pandemie, aber der Umgang mit dem Klimawandel ist ebenso entscheidend. Es wird in Zukunft mehr Dürren und mehr Wirbelstürme geben, was die Verfügbarkeit von Wasser beeinflusst. Landwirtschaft ist abhängig von stetiger Wasserversorgung. Die Herausforderungen sind nicht überall gleich, müssen aber überall angegangen werden. Sonst wird die Nahrungskrise noch schlimmer.

Die internationale Gemeinschaft kämpft seit Jahrzehnten gegen den Hunger. Was unterscheidet den aktuellen Ansatz von früheren Versuchen?
Zum ersten Mal wurde 1973 auf einem Gipfel von „Zero Hunger“ gesprochen und seitdem hat sich nicht genug verändert. Das liegt zum Teil an Konflikten, die fast immer mit Hunger und Hungertod einhergehen. Regierungen und die internationale Gemeinschaft müssen diese doppelte Geißel mit höchster Priorität bekämpfen. Der andere bedrohliche Einfluss ist der Klimawandel, der Kleinbäuerinnen und -bauern noch stärker daran hindert, genug zu produzieren.

Die Produktivität in Afrika ist sehr niedrig. Wie kann sie gesteigert werden?
Landwirtschaft wird in Afrika größtenteils von Kleinbäuerinnen und -bauern betrieben. Diese müssen unterstützt werden, denn sie können einen echten Unterschied machen. Es ist zugegebenermaßen nicht so leicht, aus 1,3 Hektar Anbaufläche mehr Produktivität herauszuholen, aber unmöglich ist es nicht. Jedes Land muss sich sein Ernährungssystem anschauen, erkennen, was daran nicht funktioniert, und es verbessern. Am dringendsten braucht es ein Umdenken bei Entscheidungsträgern.

Stimmt es, dass Afrika von allen Weltregionen das größte Potenzial für die Nahrungsmittelproduktion hat?
Ja, aber die Produktivität kann auch andernorts gesteigert werden. In Afrika sehen wir allerdings eine Reihe von günstigen Faktoren: eine Menge noch nicht beackerten Landes, in vielen Gegenden reichlich Wasser und Arbeitskräfte im Überfluss. Das eröffnet großartige Perspektiven für landwirtschaftliche Aktivitäten – allerdings nur mit den entsprechenden politischen Rahmenbedingungen.

Viele Berichte zeigen, dass eine Verbesserung der Ernährungssysteme gar nicht so teuer wäre. Es würde geschätzte 28 Milliarden Euro pro Jahr kosten, den Hunger zu beenden.
Die Folgekosten des Hungers sind auf jeden Fall höher als die Kosten der Hungerbekämpfung selbst. Aber nur Programme zur Ernährungssicherung aufzulegen, reicht nicht. Es geht darum, nachhaltige Volkswirtschaften aufzubauen, die Menschen einen anständigen Verdienst sichern, damit sie nicht wieder in Hunger und Armut zurückfallen. 

Was können Institutionen wie die GIZ dazu beitragen, so schnell wie möglich weltweite Ernährungssicherheit zu erreichen?
Die GIZ sollte die Programme beibehalten, mit denen sie Ernährungssicherheit fördert, aber noch mehr als bisher Regierungen unterstützen: Die strukturellen Defizite zu bekämpfen, die der Lebensmittelknappheit zugrunde liegen, ist genauso wichtig, wie das unmittelbare Hungerproblem zu lösen.

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