Reportage
Träume zum Anfassen
Es sind die großen Dramen eines jungen Lebens, die Carlos Beltrán so leise erzählt, dass man sich zu ihm vorbeugen muss, um ihn zu verstehen. Je dramatischer es wird, desto leiser wird der schmale junge Mann. Etwa, wenn er berichtet, wie ihn der Stiefvater aus dem Haus jagte. Wie er sich dann, gerade einmal 19 Jahre alt, alleine auf den Weg in die USA machte und nicht weit kam. Nicht einmal Mexiko habe er erreicht, sagt er. Fragt man nach, weicht er aus, fixiert einen Punkt im Raum, knetet die Finger. Carlos Beltrán ist es sichtlich unangenehm, von dieser gescheiterten Expedition in ein besseres Leben zu erzählen.
Gesprächiger ist er, als er über den zweiten Anlauf auf der Suche nach einer besseren Zukunft berichtet. Zunächst habe er Kaninchen gezüchtet, sie dann verkauft und auf ein Flugticket gespart. Beltrán schaffte es bis nach Italien, einem der Zentren salvadorianischer Migration in Europa. In Mailand hatte er eine Anlaufstelle bei Freunden, die sich dann als wenig gastfreundlich entpuppten. Er lebte ohne gültige Papiere auf der Straße, suchte Arbeit, wurde abgewiesen und kehrte desillusioniert nach El Salvador zurück.
Carlos Beltrán hat mit seinen 23 Jahren schon mehr erlebt als andere in einem ganzen Leben. Seine Geschichte ist eine, wie sie Hunderttausende junger Menschen in Zentralamerika erzählen können. Es sind Geschichten, die für viele von ihnen nicht das Happy End im vermeintlich gelobten Land bringen, sondern unendliche Strapazen und Leid. Oft endet es mit der Rückkehr in das Herkunftsland. Dann geht die Suche nach einer Perspektive wieder von vorne los. Auch Carlos Beltrán ist jetzt wieder einmal an diesem Punkt angelangt, an dem er alle Hoffnungen auf einen Neustart setzt. Aber dieses Mal nicht in der Ferne, sondern direkt vor der Haustür: in Zacatecoluca, einer Kleinstadt 60 Kilometer südöstlich von El Salvadors Hauptstadt San Salvador. Dieses Mal kreisen Beltráns Gedanken darum, wie er sich in seiner Heimatstadt etwas aufbauen kann. Klare Vorstellungen hat er: „Ich will ein Schuhgeschäft eröffnen, Schuhe gehen immer gut.“ Ein Startkapital von rund 1.000 US-Dollar, so kalkuliert Carlos, ist in etwa nötig dafür.
Das Geld will er sich mit einem Job ansparen. Dafür hat er sich in einem Programm eingeschrieben, das die GIZ in Zacatecoluca gemeinsam mit dem städtischen Jugendausbildungszentrum anbietet. 20 junge Frauen und Männer lernen hier, wie man sich um einen Job bewirbt und selbstbewusster wird. Außerdem können sie sich in Onlinekursen für die Arbeit im Einzelhandel oder in Buchhaltungen qualifizieren.
„Die jungen Leute suchen verzweifelt nach einem Job und einer Chance, Geld zu verdienen“, sagt Manuel Novoa. Er ist Leiter des Programms ALTERNATIVAS, das die GIZ im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums in ländlichen Gemeinden von El Salvador, Guatemala und Honduras anbietet. Jugendliche werden gezielt nach dem Bedarf von Unternehmen ausgebildet und Firmen werden sensibilisiert, damit sie fluchtgefährdeten oder zurückgekehrten Jugendlichen eine Chance geben. In El Salvador hat die GIZ einen strategischen Partner vor Ort gefunden, die Fundación Calleja. Die Stiftung gehört zu der gleichnamigen Unternehmensgruppe, die rund 100 Supermärkte betreibt. „Unsere Stiftung hat schon immer die Ausbildung von Jugendlichen in El Salvador unterstützt“, sagt Clara Emilia Rodríguez, Generaldirektorin der Calleja-Stiftung. „Da passt ALTERNATIVAS bestens rein.“ Die ausgewählten jungen Leute erhalten eine unbefristete Anstellung und werden in den Märkten weitergebildet. „Wir versuchen ihnen klarzumachen, wie wichtig ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis mit allen Sozialleistungen ist“, betont sie.
Die Rückkehrer nicht alleine lassen
ALTERNATIVAS setzt an zwei entscheidenden Stellen der Migration an. Zum einen sollen junge Menschen Alternativen zum Aufbruch Richtung Norden aufgezeigt bekommen. Zum anderen sollen diejenigen, die zurückkommen, dabei unterstützt werden, sich wieder in der Heimat zu integrieren. Dazu tragen auch Angebote der psychosozialen Betreuung bei, unter anderem Spiel- und Kunsttherapien. Expertinnen und Experten helfen bei der Traumabewältigung oder beraten Familien zu Fragen rund um Migration, dem alles beherrschenden Thema im nördlichen Dreieck Zentralamerikas.Viele Menschen haben kein anderes Ziel, als ihr Land zu verlassen. Sie fliehen vor Armut und Gewalt. El Salvador, Honduras und Guatemala gehören mit ihren Mordraten zu den zehn gefährlichsten Ländern der Welt. Banden terrorisieren mit Schutzgelderpressung und Zwangsrekrutierung die Bevölkerung.
Allein im ersten Halbjahr 2019 zogen bis zu 500.000 Menschen durch Mexiko Richtung Nordamerika, doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration ist der Korridor Mexiko die am meisten frequentierte und gefährlichste Migrationsroute der Welt. Menschen verdursten in der Wüste oder ertrinken im Grenzfluss Río Bravo. Auch die organisierte Kriminalität in Mexiko hat Migrantinnen und Migranten auf der 3.000 Kilometer langen Strecke im Visier. Nur ein kleiner Teil der Menschen erreicht dabei überhaupt das Ziel in den USA.
Eine Karte ihrer Träume
Das weiß auch Veronica García. Und deswegen hat die junge Frau mit dem gewinnenden Lächeln andere Ideen für ihre Zukunft. An einem windigen Morgen sitzt sie auf den Holztribünen des kleinen Sportplatzes in Ahuachapán. Die Stadt liegt 100 Kilometer nordwestlich von San Salvador. Veronica García ist eine der Schülerinnen und Schüler im Jugendausbildungszentrum. Sie wurde wie die anderen von ihrer Lehrerin gebeten, eine „Mapa de Sueños“, eine Karte ihrer Träume, zu zeichnen. Wenn man sich die Bilder so ansieht, wünschen sich die jungen Leute eine Karriere etwa als Fußballer, wollen sich besser ernähren oder ihren Eltern ein vernünftiges Haus bauen können. Migration taucht als Wunsch für die Zukunft nicht auf. Auch bei der 19-jährigen Veronica García nicht. Sie hat auf die bunte Pappe den Wunsch nach „mehr Selbstvertrauen“ geschrieben. Für sie stehen Arbeiten und Sparen im Vordergrund.
García fand nach der Schule keine Arbeit, hangelte sich von einem Gelegenheitsjob zum anderen und kokettierte ab und an damit, doch „in den Norden“ zu gehen. Wer keine Ausbildung hat, findet in El Salvador kaum einen Job. Wenn doch, verdient er den Mindestlohn von 300 US-Dollar im Monat. Aber das reicht nicht zum Leben und zum Sparen für eine Berufsausbildung, die in El Salvador meist teuer ist. Ihre Mutter redete Veronica die Migration aus. Als die junge Frau im Jugendausbildungszentrum von ALTERNATIVAS hörte, wusste sie sofort: „Das will ich machen.“ Hier wird sie auf einen Job vorbereitet und kann Wissenslücken schließen. „Ich bin selbstbewusster geworden, kann mich präsentieren und traue mich, in der Öffentlichkeit zu sprechen“, sagt Veronica García.
Die junge Frau fühlt sich jetzt ihrem Traum, den sie aufgemalt hat, ein Stück näher. „Ich möchte Krankenschwester werden, aber dafür brauche ich zuvor eine Arbeit, um für die Ausbildung zu sparen. Ich weiß jetzt, dass ich sehr weit kommen kann und auch hier zu Hause eine Zukunft habe.“
INTERVIEW
Weshalb ist es wichtig, Migrantinnen und Migranten zu unterstützen, die in ihre Heimat zurückkehren?
Die Menschen haben oft Gewalt erfahren, sind desorientiert, ohne Geld und entwurzelt. Allein in El Salvador landen mitunter ein bis zwei Flugzeuge pro Tag mit „Retornados“. Und viele kommen mit Bussen an. Mehr als 18.000 Menschen kehrten in der ersten Hälfte 2019 nach El Salvador zurück. Davon waren gut drei Viertel Männer, fast ein Fünftel waren Kinder. Nach Guatemala und Honduras gingen in diesem Zeitraum fast 55.000 beziehungsweise knapp 60.000 Menschen zurück. Das staatliche System nimmt die Rückkehrenden in der Hauptstadt auf, zahlt ihnen ein Ticket nach Hause und dann – rette sich, wer kann. Wir arbeiten an der Dezentralisierung von Dienstleistungen, damit die Menschen auch in ihren Herkunftsgemeinden betreut werden.
Sie arbeiten auch mit jungen Menschen, die mit dem Gedanken spielen, nach Norden zu migrieren. Wie sieht das konkret aus?
Wir können die Migration nicht abschaffen, aber wir können sie verändern. Wir wollen jungen Leuten zeigen, dass es auch vor Ort Möglichkeiten für eine gute Zukunft gibt. Wir versuchen, Jugendliche mit Unterstützung von Partnern aus der Wirtschaft schnell in Lohn und Brot zu bringen. Sie sollen würdige Jobs bekommen. Erfolgreich Vermittelte sind Vorbilder. Zudem planen wir eine Kampagne, um den Menschen bewusst zu machen, was die Risiken der Migration sind. Wenn sie sich dann immer noch für die Auswanderung entscheiden, ist das ihre wohlüberlegte Entscheidung. Wir wollen ihnen sagen, dass sie ein Recht haben zu migrieren, aber eben auch das Recht, es nicht zu tun.
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