Gastbeitrag: Agenda 2030

„Schluss mit der Klage!“

Die Tunesier sollten die Leistungen ihres Landes nach dem Arabischen Frühling stärker anerkennen, sagt Amel Karboul.

Text
Amel Karboul

Eine schwarz-weiße Zeichnung eines lächelnden Gesichts einer Frau mit zurückgezogenen Haaren. Sie blickt direkt in die Kamera, und ihr Gesichtsausdruck ist freundlich und einladend.

Ich hatte immer den Ruf, das ausgeglichenste Mitglied meiner Familie zu sein, Kritik nicht persönlich zu nehmen und auch inmitten heftiger Stürme eine „Zen-Haltung“ einzunehmen. Doch in letzter Zeit gerate ich oft in Wut. Warum? Weil ich vielerorts in Tunesien höre: „Es hat sich nichts verändert!“

Wenn Tunesier über Tunesien sprechen, stechen Bescheidenheit und Demut nicht gerade hervor. Wir sind extrem stolz, denn wir glauben, dass wir das beste Essen haben, das schönste Wetter, außergewöhnliche Kunst, ein außergewöhnliches historisches Erbe und so weiter. Unser Kolosseum in El Djem ist besser erhalten als das in Rom. Wir waren 1846 der erste muslimische Staat, der die Sklaverei abgeschafft hat, und 1956 der erste, in dem die Polygamie verboten wurde. Frauen in Tunesien genießen mit die größten Freiheiten in der arabischen Welt. Doch wenn es um eine der bedeutendsten Errungenschaften unserer jüngsten Geschichte geht – unsere demokratische Revolution 2011 –, schwindet der Stolz plötzlich.

Wir alle lernen gerade erst, was Demokratie wirklich heißt

Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Tunesien heute eine richtige Demokratie ist. Ja, wir alle lernen gerade erst, was das wirklich heißt. Doch wenn vor einem Jahrzehnt jemand gesagt hätte, es werde ein arabisches Land geben, das hundert Prozent demokratisch ist, hätte man geantwortet: unmöglich. 

Zudem haben wir eine der modernsten Verfassungen der Welt. Sie garantiert bekannte Rechte, wie die Redefreiheit, aber auch neue Errungenschaften, wie das Recht auf eine saubere Umwelt oder den Schutz von Frauen gegen Gewalt. Und 2014 hatten wir freie und demokratische Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Ich erinnere mich noch lebhaft an jenen Tag im Februar 2015, als meine Kollegen und ich die Führung unseres Landes an die neue Regierung übergaben. Wir waren zu Tränen gerührt, Teil eines solchen historischen Augenblicks zu sein – eines friedlichen Regierungswechsels. 

Extremismus gefährdet unsere freie Welt

Als Letztes möchte ich daran erinnern, dass der Friedensnobelpreis 2015 an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog ging. Er war eine Anerkennung seiner einzigartigen Bemühungen um Dialog. In der Politikwissenschaft wird heute vom „Tunesischen Weg“ gesprochen und unser Nachbar Libyen kämpft darum, einen ähnlichen Weg zu finden. Leider feiern wir diese Errungenschaften nicht genug und haben das auch früher nicht getan. Einige radikale Gruppen missbrauchen die Klage „Es hat sich nichts geändert“ gar, um Jugendliche in den Extremismus zu ziehen. Perspektivlosigkeit und Extremismus gefährden unsere freie Welt – gleich, welcher Nationalität die Extremisten sind. Anschläge wie jener im Dezember 2016 in Berlin dürfen sich nicht wiederholen. 

Anfangs hat die tunesische Zivilgesellschaft motiviert, engagiert und aktiv für ihre Rechte gekämpft. Sie war auf höchster Ebene daran beteiligt, die neue Verfassung mitzugestalten. Doch in den vergangenen Monaten ist bei vielen Bürgern eine Müdigkeit, vielleicht sogar ein Ohnmachtsgefühl zu spüren. 

Nach der Revolution kommt die Evolution

Sicher: Jugendarbeitslosigkeit und Korruption, die zu den Auslösern der Jasmin-Revolution gehörten, stellen weiter Herausforderungen dar. Doch ist uns bewusst, dass politischer, sozialer und ökonomischer Wandel nicht über Nacht passieren kann? Dass andere Länder Jahrhunderte gebraucht haben, um zu erreichen, was wir in fünf Jahren geschafft haben? Wir müssen uns klarmachen, dass eine neue Aufgabe auf Tunesien wartet: Nach der Revolution kommt die Evolution. Sie mag langwierig sein, aber sie ist lohnend: eine Evolution in den Bereichen Kultur und Bildung sowie der Aufbau eines neuen Gesellschaftsvertrags und starker Institutionen. 

Wir befinden uns mitten in diesem Prozess und übersehen dabei manchmal die  Fortschritte, die wir schon gemacht haben. Wir sind auf einem guten Weg. Also lasst uns Schluss machen mit der Klage, es habe sich nichts verändert!

Amel Karboul ist Generalsekretärin des Maghreb Economic Forums. Sie war Ministerin für Tourismus in der tunesischen Übergangsregierung nach dem Arabischen Frühling.

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