Moderne Prothesen für Kuba
Salsa tanzen mit neuem Bein
An diesem langen Vormittag zwischen Warten und Wartung zieht Leisé González irgendwann ihr Smartphone aus der Tasche und sagt: „Guck mal hier, das bin ich auf dem Malecón.“ Zu sehen ist ein Video, gefilmt an der berühmten Promenade von Havanna: Eine junge Frau tanzt Salsa – schwungvoll, elegant und leidenschaftlich. „Und das war mit der alten Prothese – jetzt stell dir mal vor, wie ich mit der neuen tanzen werde.“ Leisé González steckt das Telefon wieder ein und lacht, als habe man ihr gerade das Geschenk ihres Lebens gemacht.
Moderne Materialien und neuestes Wissen
Die 28-Jährige lebt schon ein Vierteljahrhundert ohne linken Unterschenkel. Ein Lkw fuhr ihr in Kindertagen über das Bein. Aber González ist ein gut gelaunter Mensch und sehr sportlich. Gerade sitzt die Kubanerin in der Werkstatt des Nationalen Zentrums für Orthopädietechnik in Havanna und macht sich mit ihrer neuen Prothese vertraut. Sie prüft das unbekannte Material, bewegt das Gelenk des Fußes, streicht fast liebevoll über das neue Hilfsmittel, das ihr das Leben leichter machen soll. Nur wenige Sekunden braucht Leisé, um sich die neue Unterschenkelprothese anzuziehen. Dann springt sie vom Hocker auf, läuft in der Werkstatt mehrfach vom einen zum anderen Ende. Dabei nickt sie kaum merklich, lächelt, so als spüre sie in sich hinein. Hätte sie keine Shorts an, wüsste man nicht, dass ihr Bein unter dem Knie amputiert ist, so natürlich bewegt sie sich. „Was für ein Unterschied!“, ruft sie. „Ich gehe viel weicher.“
Das neue Bein hat die Dolmetscherin gerade erst bekommen, gefertigt haben es kubanische Techniker mit deutscher Unterstützung. Leichte Materialien wie Fiberglas und Karbonfaser und den modernen Prothesenfuß lieferte die Ottobock SE & Co. KGaA. Auch das Know-how hat der Weltmarktführer bei Prothesen und Orthesen vermittelt. Denn das Unternehmen mit Sitz im niedersächsischen Duderstadt bildet seit 2016 kubanische Techniker weiter. Experten des Konzerns machen sie mit modernen Materialien und neuestem Wissen in der Orthopädietechnik vertraut.
Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt im Rahmen des Programms develoPPP.de des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diese Qualifizierungsprogramme. Die Fachkräfte werden sowohl an Ottobocks „International O&P School“ in Duderstadt als auch direkt in Havanna geschult, eine in dieser Art einmalige Entwicklungspartnerschaft zwischen Kuba und Deutschland.
„Mit der neuen Technik und meiner Ausbildung kann ich den Patienten mehr Lebensqualität ermöglichen.“
Eriel Castillo, Orthopädietechniker
Einer der deutschen Experten ist Karim Diab, internationaler Trainer für Arm- und Beinprothetik. Rund ein Dutzend kubanischer Techniker in weißen Kitteln verfolgt an diesem Morgen aufmerksam, wie Diab einen Patienten auf eine Art Bank setzt und die Stärke von dessen Oberschenkelstumpf mit Hilfe eines Gipsverbands abnimmt. Der Vorteil ist, dass sich der Gips unter Belastung genau an die Stumpfform anpasst. So muss hinterher an der eigentlichen Prothese nicht mehr viel verändert werden. Dieses präzise Verfahren ist für die Patienten deutlich schonender als das vorher angewandte. Auch für Unterschenkel-Amputierte hat Diab seinen Kollegen eine neue Gipstechnik unter Belastung beigebracht. Diese Technik überzeugt dadurch, dass der Patient schon beim Gipsen im Schaft steht. Die Druckpunkte sind dadurch die gleichen wie auch später bei der Benutzung der Prothese.
Die Kubaner geben ihr Wissen weiter
Vier Lehrgänge von jeweils zwei Wochen haben die deutschen Experten 2017 in Kuba gegeben. Sie haben erklärt, wie man Arm- und Beinprothesen sowie Beinorthesen – also unterstützende Hilfsmittel bei Verletzungen – baut und sie an die Bedürfnisse der Patienten anpasst. Dabei wurden 33 Techniker aus 14 Werkstätten in ganz Kuba geschult. Sie sollen ihr Wissen nun an ihre Kollegen in den Orthopädiewerkstätten weitergeben, damit möglichst viele Patienten davon profitieren können. 2018 sind weitere vier Lehrgänge durch Ottobock-Experten auf Kuba geplant.
Die deutschen Kooperationspartner haben dafür jede Menge Hightech-Ausrüstung mitgebracht. Alle neuen Geräte bleiben in Kuba und die Techniker können damit weiterarbeiten – zum Beispiel mit einem Statikmessgerät mit Laserstrahl. Markus Goldmann, Chefausbilder an der O&P School, erklärt, wie man damit aufs Genaueste überprüft, ob Körperhaltung, Gewicht und Prothese des Patienten auch wirklich in harmonischem Einklang stehen.
Das Hightech-Gerät wirkt futuristisch in der kubanischen Orthopädiewerkstatt. Hier geht es noch ziemlich analog zu. Die Werkbänke sind mit Schraubstöcken ausgestattet, auf den Arbeitstischen liegen Gipsabdrücke von Stümpfen, ausgemusterte Prothesen, alte Holzfüße. Alle neueren Geräte stammen aus der Teilmodernisierung der Werkstatt 2015, finanziert durch eine persönliche Spende des Ottobock-Firmenchefs Hans Georg Näder. Zwei Mechaniker fertigen einen Beinstützapparat aus Metall, ein anderer rundet Kanten an einer Fräsmaschine, ein weiterer stellt Gipsabdrücke her. An den Wänden hängen Bilder von Fidel Castro und von Che Guevara, den Idolen der Kubanischen Revolution.
Kuba galt mit seiner guten medizinischen Versorgung lange als Vorbild in Lateinamerika. Orthopäden und Techniker verstehen ihr Handwerk und haben hervorragende Grundlagen. Doch bei der Technologie scheint die Zeit stehen geblieben. Man kann das gut am Namen der Werkstatt im Nationalen Zentrum für Orthopädietechnik ablesen. Sie heißt „Cuba-RDA“, „Kuba-DDR“. Orthopädietechniker von der Berliner Charité haben bis zum Ende der DDR die Kollegen aus dem sozialistischen Bruderstaat beraten, beliefert und unterstützt. Seit 1990 hat hier kaum noch technischer Fortschritt stattgefunden. Dabei ist der Bedarf an gut ausgebildeten Orthopädietechnikern und modernem Material groß.
Es fehlt an Fachleuten
Auf der Karibikinsel mit ihren rund elf Millionen Einwohnern leben etwa 16.000 Menschen mit größeren Amputationen einer unteren Extremität. 1.600 Patienten kommen jedes Jahr hinzu, meist sind Verkehrsunfälle oder Diabetes die Ursache. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Insel können aber nicht alle Patienten adäquat mit Prothesen oder Schuhen, Schienen oder anderen Hilfsmitteln versorgt werden. Auch an Fachleuten fehlt es. 350 Orthopädietechniker gibt es auf der Insel, aber nur die Hälfte von ihnen ist in der Lage, selbstständig Prothesen anzufertigen. Zudem ist ein Teil der Experten im Pensionsalter. Armando Márquez zum Beispiel, der Leiter von „Cuba-RDA“, ist 75 Jahre alt und arbeitet dort seit mehr als einem halben Jahrhundert.
Eriel Castillo hingegen gehört zur Nachwuchsgeneration. Der 35-Jährige mit dem kurzen braunen Haar ist besonders begabt. Auch deshalb schickte ihn das Nationale Zentrum für Orthopädietechnik gemeinsam mit einer Kollegin und zwei Kollegen für zehn Monate zur Aus- und Fortbildung ins Trainingszentrum von Ottobock nach Duderstadt. Gemeinsam mit Technikern aus der ganzen Welt brachte Castillo sein Wissen in dieser Zeit auf den neuesten Stand. Am Ende schloss er den Lehrgang als drittbester Prüfling ab. Für den Kubaner war die Fortbildung fast wie das Erlernen eines neuen Berufs: „Wir waren gut ausgebildet, aber eben nicht mehr auf der Höhe der Zeit“, erzählt er. „Prothesenbau ist heute fast eine Wissenschaft, bei der sogar Lasertechnik zum Einsatz kommt. Das war für mich völlig neu.“
KUBA
Hauptstadt: Havanna / Einwohner: 11,2 Millionen / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 7.602 US-Dollar / Wirtschaftswachstum: 4,4 Prozent / Rang im
Human Development Index: 68 (von 188)
Die Zusammenarbeit mit Ottobock ist Teil des Programms develoPPP.de. Damit fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Engagement der Privatwirtschaft dort, wo unternehmerische Chancen und entwicklungspolitischer Handlungsbedarf zusammentreffen. Die Firmen bekommen finanzielle und fachliche Unterstützung. Sie tragen mindestens die Hälfte der Gesamtkosten.
www.developpp.de
Kontakt: Dominik Weidert, dominik.weidert@giz.de
An diesem Vormittag ist Castillo in der Werkstatt gefragt. Die Patienten sagen ihm, wo die Prothese drückt oder schmerzt, und bitten um Abhilfe. Auch die paralympische Athletin Malu Pérez ist gekommen. Sie hat in Rio 2016 für Kuba die Bronzemedaille im Weitsprung gewonnen. Ottobock hatte sie dafür mit einer Sprungfeder aus Karbon ausgestattet. Jetzt trainiert Pérez für Tokio 2020, wo sie Gold gewinnen will. Eriel Castillo ist ihr persönlicher Techniker.
Neue Prothese aus Karbon
Doch zunächst ist Frank González dran, ein 45-jähriger Tourismusmanager aus der Provinz Cienfuegos. Er hat die mehrstündige Busfahrt auf sich genommen, weil Castillo ihm heute eine neue Prothese anpassen will. Der Techniker hat sie mit seinem in Deutschland erworbenen Wissen und neuen Hightech-Materialien angefertigt. González fehlen seit seiner Geburt Finger an beiden Händen, das linke Bein ist stark verkürzt und er hat kein Wadenbein. Daheim hat man ihm eine Prothese gefertigt. Die ist aber zu schwer und zu kurz. Frank González fühlte sich nicht sicher.
Als ihm Eriel Castillo die neue Prothese mit einem Fuß aus Karbon anpasst, hellt sich die Laune des Patienten auf. Der Techniker fragt, ob González gut abrollen kann, zieht mit einem Inbusschlüssel am Gelenk eine Schraube nach und prüft, ob der Patient in den Hüften gerade steht. Dann macht González erste vorsichtige Schritte. Und zum ersten Mal an diesem Tag lacht er. Castillo stimmt ein. „Die alte Prothese war zu einfach aufgebaut für eine so komplexe Behinderung“, erklärt er. Der neue Prothesenfuß ist auf energetische Effizienz und harmonische Bewegungsabläufe ausgelegt. Mit anderen Worten: Es wird darauf geachtet, dass der Patient die Prothese kaum spürt und ihr Tragen ihn nicht ermüdet.
Endlich ohne Angst unterwegs
„Früher hatte ich immer Angst, mir knickt die Prothese weg, wenn ich zum Beispiel zur Bushaltestelle laufen wollte“, sagt González. Techniker Castillo kennt diese Angst auch von anderen Patienten. Oftmals helfen einfache Prothesen ihnen nur über die größte Not hinweg. „Mit der neuen Technik, den besseren Materialien und meiner Ausbildung kann ich Patienten wie Frank oder Leisé mehr Lebensqualität ermöglichen.“ Die Patienten hat das Nationale Zentrum für Orthopädietechnik ausgewählt. Den Großteil der Kosten für die Hilfsmittel trägt der kubanische Staat, die Patienten müssen aber einen Eigenanteil bezahlen. So kostet eine Unterschenkelprothese für sie umgerechnet 4,50 US-Dollar.
Ortswechsel. Calle Pizarro in Mantilla, ein Ortsteil von Havanna eine halbe Stunde von der Werkstatt entfernt. Hier wohnt Leisé González in einer Einzimmerwohnung. Es ist inzwischen später Nachmittag. Ein Nachbar hat Geburtstag. Auf einem Grill schmoren Hühnerschenkel. Salsamusik dringt ins Freie. González fordert den Nachbarn zum Tanz auf, wirbelt mit ihm über die Straße. Später sagt sie, noch ganz außer Atem: „Wenn ich tanze, vergesse ich alles. Und mit der neuen Prothese merke ich fast gar nicht, dass ich nur ein gesundes Bein habe.“ In ihrem Rücken geht die Sonne über Havanna unter.
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