Arbeitssicherheit in der Mongolei
Mission Arbeitsschutz
Norwegens zerklüftete Landschaft empfängt die Delegation aus der Mongolei ganz in Weiß. Boris Buyannemekh sah den Schnee schon beim Anflug auf Oslo in der tief stehenden Sonne leuchten. „Endlich! Wir alle vermissen zu Hause den Schnee“, sagt der staatlich beauftragte Sicherheitsinspektor, nachdem er zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat. Im mongolischen Winter sei die weiße Pracht dieses Jahr ausgeblieben. „Den Schnee nun in Europa zu finden, ist ein schöner Auftakt unserer Reise.“
Doch schon beim ersten Rundgang durch die norwegische Hauptstadt weicht die touristische Freude dem prüfenden Blick der neun Experten für Arbeitssicherheit und Gesundheit. Buyannemekh und die anderen Mitglieder der Delegation wundern sich über das Eis auf den Gehwegen, das nur mit grobem Kies bestreut ist: Was, wenn ein Bürger hier ausrutscht? Wer haftet dann? Muss der Staat kein Salz für die Sicherheit der Fußgänger streuen wie in ihrer Hauptstadt Ulan-Bator? Die Antwort legen zwei Frauen nahe, die an der Gruppe vorbei über das Eis joggen – mit Spikes unter den Turnschuhen. Norwegens Bürgern sind gesellschaftlich ausgehandelte Entscheidungen viel wert: Weil durch geringeren Salzeinsatz die Umwelt geschützt werden soll, übernehmen sie Eigenverantwortung für einen sicheren Tritt.
Ob beim größten Arbeitgeberverband Norwegens, beim Dachverband der Gewerkschaften oder im nationalen Forschungsinstitut für Gesundheit und Arbeitssicherheit – überall begegnet der Delegation, die vom mongolischen Vizearbeitsminister Jamiyandorj Batkhuyag geleitet wird, das Grundprinzip der Norweger. Es ist eine Art Dreieinigkeit: Vertreter von Regierung, Arbeitgebern und Arbeitnehmern setzen sich in regelmäßigen Abständen zusammen und verhandeln auf der Basis wissenschaftlich ermittelter Fakten – auch über Sicherheit am Arbeitsplatz.
Sicherheitsstandards von ILO und EU
Seit mehr als 100 Jahren wird auch die Verteilung der Rechte und Pflichten zwischen Arbeitgebern und -nehmern ausgehandelt – einmal akzeptiert, halten sich bis zur nächsten Verhandlungsrunde alle daran und norwegische Arbeiter dürfen nicht streiken. Die Norweger betonen, dass sie darin den Schlüssel für produktives Wirtschaften sehen.
Bei ihren Sicherheitsstandards orientieren sich die Norweger an den Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation und der EU. Doch die Rechte der Arbeiter auf sichere Umgebung sind in Norwegen seit 1977 stärker im Arbeitsgesetz verankert als anderswo in Europa, wird den Gästen erklärt. Das norwegische System setzt außerdem auf Wissen und Information: Ein nationales Kontrollinstitut, ein Forschungsinstitut, Betriebsärzte, Sicherheitsmanager und Weiterbildungskurse leisten beständig Aufklärung über den Zusammenhang von Arbeit, Krankheit und Gesundheit.
Im Krankheitsfall wird das Gehalt weiter gezahlt
Besonders aufmerksam hört Luvsandanzan Urgamal beim norwegischen Verband der Unternehmer zu. Die Ingenieurin berät den mongolischen Arbeitgeberverband in Fragen der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Sie hakt nach: Welche Regelungen zum Arbeitsschutz sind verhandelbar, welche nicht? Leisten die norwegischen Arbeitgeber bereitwillig Aufklärung und Sicherheitsmanagement, und woher kommt das Geld dafür? Sie erfährt, dass auch der Dachverband stolz auf hohe Sicherheitsstandards ist und dafür Geld aus einem eigenen Fonds schöpft. So wird norwegischen Arbeitnehmern ihr Gehalt im Krankheitsfall derzeit ein Jahr lang zu 100 Prozent weitergezahlt. Das ist großzügig, aber auch teuer für die Arbeitgeber. Deshalb achten sie in den Verhandlungen durchaus darauf, dass ihr Anteil an den Zahlungen nicht zu hoch ist.
Urgamal selbst blickt auf viele Jahre Erfahrung als Arbeitsschutzinspektorin zurück, auch in der staatlichen Inspektionsbehörde, für die Boris Buyannemekh arbeitet. „Heute ist es mir wichtig, in der Mongolei die Unternehmer für das gesamtgesellschaftliche Ziel ins Boot zu holen“, sagt sie. Statt behördliche Anweisungen zu geben und ihre Durchsetzung zu kontrollieren, leistet sie Überzeugungsarbeit. Noch würden sich in der Mongolei die Sozialpartner die Verantwortung meist gegenseitig zuschieben, wenn Unfälle passierten, am Ende hätten die Geschädigten das Nachsehen. „Es ist mir daher sehr wichtig zu erfahren, wie andere Gesellschaften die Verantwortlichkeiten gesetzlich regeln und mit welchen Argumenten und Maßnahmen sie organisieren, dass sich alle für Sicherheit engagieren und an die Regeln halten.“
Bildergalerie: Mongolische Politiker, Inspektoren, Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter begaben sich auf Studienreise.
Mit dem Boom im Bergbau haben in der Mongolei die Probleme rund um Sicherheit und Gesundheit der Arbeiter zugenommen. Das Land erlebt infolge des verstärkten Rohstoffabbaus eine rasante Entwicklung im Bausektor: Mehr Infrastruktur wird gebraucht, Städte wachsen. Damit steige leider auch die Zahl der schweren Unfälle, erzählt Buyannemekh, der in der staatlichen Inspektionsbehörde die Abteilung für Arbeit und soziale Sicherheit leitet. „Über 50 Todesfälle nach Unfällen haben wir im letzten Jahr in den Sektoren gezählt“, sagt er. „Fast täglich sitzen Frauen weinend in meinem Büro, weil zum Beispiel der Familienvater vom Baugerüst gefallen ist“, berichtet er betroffen. Zu oft könne er nicht helfen, weil nicht gesetzlich geregelt ist, wer nach tödlichen Unfällen Versorgungsleistungen für die Hinterbliebenen zahlen muss. Die Schicksale belasten den engagierten Arbeitsschutzexperten. „Der ökonomische Aufschwung soll der Gesellschaft dienen, deswegen müssen wir es schaffen, dass Unfälle gar nicht erst passieren.“
"Maßgebliche Erfahrung mit Arbeitssicherheit und Gesundheit"
Die Reise nach Norwegen und Deutschland unterstützt dieses Ziel. Spätestens im Herbst 2015 soll die mongolische Arbeitsschutzgesetzgebung novelliert werden – im Vorfeld wollen die abgesandten Politiker, Inspektoren, Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter Einsicht in hohe Standards bekommen, um zu Hause die Debatte mit neuen Informationen und Argumenten zu bereichern. „Norwegens System interessiert die Teilnehmer deshalb, weil das Land eine Entwicklung hinter sich hat, wie sie die Mongolei vielleicht vor sich hat“, sagt Batbold Otgonbayar von der GIZ in der Mongolei, der die Gruppe begleitet. „Die erfolgreiche Wirtschaft der Norweger gründet auf dem Rohstoffabbau und in diesem Sektor hat das Land maßgebliche Erfahrung mit Arbeitssicherheit und Gesundheit gesammelt.“
Die Delegationsreise wurde von der GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie organisiert, denn Deutschland ist mit der seit 2011 bestehenden deutsch-mongolischen Rohstoffpartnerschaft für die Mongolei auch der wichtigste Ansprechpartner bei Arbeitssicherheit und Gesundheit. Positive Beispiele vorzustellen, ist ein wichtiger Teil der deutschen Beratung.
Unfallversicherung ist per Gesetz beteiligt
Von Oslo fliegt die Gruppe deshalb weiter in die deutsche Hauptstadt. Auch für Urgamal ist es der erste Besuch in Europa und die Metropole an der Spree erobert gleich ihr Herz. „Berlin hat eine Aufbruchsstimmung, die mir aus Ulan-Bator vertraut ist“, schwärmt sie. Die Ingenieurin ist in einer ländlichen Provinz aufgewachsen, aber geschäftige Großstädte gefallen ihr.
Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales lässt sich die Gruppe von der Vertreterin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin die Besonderheit des deutschen Systems erklären: Neben dem Staat ist die Unfallversicherung per Gesetz an der Sicherheit am Arbeitsplatz beteiligt. Das gefällt Buyannemekh. „Damit ist das gemeinsame öffentliche und private Interesse am Schutz der arbeitenden Bevölkerung politisch klar definiert.“
Internationale Delegationen
Die Mongolei ist eines von vielen Ländern, aus denen die GIZ Gäste empfängt: Jedes Jahr reisen mehr als 300 Delegationen aus aller Welt nach Deutschland. Die Besucher, oft hochrangige Vertreter der jeweiligen Regierungen, tauschen sich in Expertengesprächen über Politik-, Reform- und Veränderungsprozesse in Deutschland und Europa aus, um Reformimpulse in ihre Länder zu tragen. Zudem ermöglichen die Reisen ihnen, ihre eigenen Anliegen und Erfahrungen in Deutschland zu vermitteln. Die Themen der Reisen reichen vom dualen Ausbildungssystem über erneuerbare Energien bis hin zur Rechts- und Justizreform.
Zum Abschluss der Reise überzeugt er sich gemeinsam mit dem mongolischen Vizearbeitsminister auf der Großbaustelle im Herzen Berlins, wo das historische Stadtschloss wiedererrichtet wird, noch einmal ganz handfest von den Sicherheitsstandards, die sie auch für ihr Land erreichen wollen: Helm, Warnweste und Sicherheitsschuhe für alle, ein unabhängiger Sicherheitskoordinator auf dem Gelände mit Autorität gegenüber der Baufirma, gut sichtbare Rettungspläne, sichere Gerüste, ein eigener Container für Erste Hilfe.
Zurück in der Mongolei wird Buyannemekh von der beeindruckenden Berliner Baustelle erzählen, kündigt er an – und übrigens auch von den vielen jungen norwegischen Männern, die er unterwegs mit Kinderwagen beobachtet hat. Dann will er sich noch tiefer in die deutschen und norwegischen Regeln zur Arbeitssicherheit einarbeiten und sein neues Wissen zu Hause vermitteln. Die Ingenieurin Urgamal hofft, dass die Delegierten nach der Reise an der Umsetzung höherer Sicherheitsstandards mitarbeiten können. Delegationsleiter Batkhuyag gibt seitens des Arbeitsministeriums dafür schon grünes Licht: „Dieses Team hat jetzt viele Informationen aus erster Hand gesammelt und wichtige Kompetenzen erworben. Die Mitglieder bleiben in Kontakt.“
> Ansprechpartnerin: Sigrid Vesper delegationen@giz.de
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