Interview

„Gesellschaftlicher Kommentar“

Der Künstler Olalekan Jeyifous aus Brooklyn hat einen ganz eigenen Blick auf urbanes Leben. In einer Serie mit dem Titel „Shanty Megastructures“ richtet er den Blick auf die nigerianische Hauptstadt Lagos: Jeyifous mischt Impressionen aus peripheren Slums mit Elementen hochwertiger Wohn- und Geschäftslagen. Mit diesen Fotomontagen will er die Marginalisierten und Vergessenen in den Vordergrund rücken und so eine Diskussion über Stadtentwicklung anstoßen. Der Titel der akzente-Ausgabe „Stadt: Labor der Zukunft“ stammte von Olalekan Jeyifous.

Text
Interview: Friederike Bauer

Ihre Kunst ist einzigartig: Wie würden Sie Ihre Arbeit in wenigen Sätzen beschreiben?
Ich bin spekulativ künstlerisch tätig und dabei inspiriert von der Architektur. So würde ich meinen Stil beschreiben.

Künstler Olalekan Jeyifous aus Brooklyn
Architekt und Künstler Olalekan Jeyifous

Sind Sie dabei eher Künstler oder eher Architekt?
Ich betrachte mich eher als Künstler. Aber meine Kunst ist stark von Architektur inspiriert, besonders vom Prozess der Entstehung architektonischer Werke. Das wende ich bei meiner Arbeit an.

Arbeiten Sie überhaupt als Architekt?
Nein. Ich habe Freunde, die als Architekten tätig sind, und manchmal arbeite ich gemeinsam mit ihnen an Projekten – aber mehr in der Planungsphase. Ein Projekt richtig konstruieren, dokumentieren und auch fertigstellen, das habe ich seit etwa acht Jahren nicht mehr gemacht.

Sie haben ein Architekturstudium abgeschlossen. Haben Sie denn je Gebäude entworfen?
Ja, ich habe Architektur studiert und einige Objekte entworfen, Umbauten, aber auch neue Gebäude. Ich eröffnete mit drei Kollegen ein Architekturbüro; einer von ihnen betreibt es immer noch. Zwischen 2008 und 2012 haben wir verschiedene Büros gestaltet, eine Handvoll kleinerer Entwürfe und Renovierungen erledigt und auch an einer Synagoge gearbeitet.

„Ich wollte zeigen, wie solche Projekte die Armen ignorieren.“

Und dann haben Sie die Serie „Shanty Megastructures“ herausgebracht. Das ist eine Sammlung von Bildern aus Lagos, in denen Sie Shantytowns, also Hüttensiedlungen, mit High-End-Stadtbezirken kontrastieren. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich hatte mich mit informellen Siedlungen und der Vertreibung marginalisierter Gruppen überall auf der Welt beschäftigt, von Brasilien bis Südafrika; auch die Wohn- und Lebensbedingungen in den USA interessierten mich. Für einen Beitrag zur Architektur/Urbanismus-Biennale in Shenzhen 2015 wollte ich dann eine Reihe von Fotomontagen gestalten. Und zwar zu großen Stadtentwicklungsprojekten; ich wollte zeigen, wie solche Projekte die Armen ignorieren. Und so kam ich auf die „Shanty Megastructures“; sie changieren zwischen Satire und dem bewussten Hervorheben biologischer Bauweisen, die solche Bevölkerungsgruppen oft nutzen. Es ist gewissermaßen eine Art ökologischer Futurismus.

Ein Mann mittleren Alters in traditioneller Kleidung steht auf einem Kanu in einer urbanen Wasserlandschaft in Lago. Im Hintergrund sind hohe, runde Häuser, die wie Bäume aussehen, zu sehen. Die Szene ist reich an Details und Farben und zeigt eine lebendige Gemeinschaft, die sich an das Leben auf dem Wasser angepasst hat.

Mit anderen Worten, Sie kritisieren die typische Stadtplanung und -entwicklung?
Ja, ich wollte die armen Gegenden in den Mittelpunkt stellen, weil sie normalerweise an den Rand gedrängt und als Schandflecken, als Peinlichkeit betrachtet oder übersehen werden. Genau aus dem Grund wollte ich diese Bauten hervorheben und in große Geschäftsviertel verpflanzen.

Ist das auch ein politisches Statement?
Die Bilder vermitteln eine politische Aussage, auch wenn ich den Blick dabei nicht auf eine Person, Partei oder Regierung richte. Es ist ein Kommentar zur gesellschaftlichen Lage; er zeigt ein aktuelles soziales Problem auf, das meiner Ansicht nach gelöst werden sollte. Ein politisches Programm stelle ich dabei nicht vor.

„Ich versuche eher, Bewusstsein zu wecken, als tatsächlich Lebensbedingungen zu verändern.“

Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Kunst etwas erreichen können für die Vergessenen und Marginalisierten?
Ganz direkt würde ich das nicht sagen, das wäre auch anmaßend. Meiner Ansicht nach gibt es bei Kunst, die sich mit Afrika beschäftigt, ein generelles Problem: Manche haben diesen paternalistischen Irrglauben – den Retter-Komplex –, dass man das Leben anderer Menschen ändern könnte. Ich habe kein Architekturbüro. Alles, was ich tue, mache ich ganz allein. Von daher würde ich niemals annehmen, dass ich damit eine direkte, größere Wirkung erzielen könnte. Sondern ich beteilige mich an einer Diskussion, an einem Diskurs. Ich versuche also eher, Bewusstsein zu wecken, als tatsächlich Lebensbedingungen zu verändern.

Wie beeinflusst Ihre nigerianische Herkunft Ihre Arbeit?
Sie spielt natürlich eine Rolle. Ich bin in Nigeria geboren; habe dort bis zu meinem sechsten Lebensjahr gelebt und bin dann in die Vereinigten Staaten gekommen. Als ich an den „Shanty Megastructures“ gearbeitet habe, war ich allerdings seit 30 Jahren nicht mehr in Nigeria gewesen.

Fühlen Sie sich heute als Amerikaner?
Das ist kompliziert. Ich definiere mich auf jeden Fall als Amerikaner, fühle mich aber auch sehr nigerianisch. Ich bin in Amerika aufgewachsen, habe mich voll und ganz in die amerikanische Kultur eingelebt. Aber ich habe auch eine Einwanderer-Geschichte. Als ich in die USA kam, hatte ich einen sehr starken Akzent, und ich habe einen sehr fremd klingenden Namen. Wenn Menschen meinen Namen hören, fragen sie als erstes: „Wo kommen Sie her?“ All das hat mich geprägt, auch noch, als ich meinen Akzent längst abgelegt hatte.

„Ich sehe meine Arbeit eher als eine Idee, eine visuelle Erforschung zeitgenössischer Probleme, denn als architektonische Präsentation.“

Sie waren also weit weg von Lagos und zugleich nah dran, als Sie mit der Arbeit an den „Shanty Megastructures“ begannen?
Irgendwie schon. Ich konnte mich mit der Stadt identifizieren, zugleich hatte ich eine deutliche Distanz. Wahrscheinlich konnte ich deshalb diese spezielle Perspektive auf Lagos entwickeln.

Haben Sie Reaktionen aus Lagos bekommen?
Ja, habe ich. Manche ablehnend – manche unterstützend. Einerseits bekam ich zu hören: Das ist eine Schande, es ist peinlich, Sie verstärken bloß Klischees. Als ich die Bilder einmal in Lagos zeigte, stand eine Frau auf. Sie war so wütend, dass ihr beinahe die Tränen kamen, und sie sagte: „Warum erschaffen Sie so etwas? Es ist so negativ, es ist so hässlich, es erzeugt negative Stereotype von unserer Stadt in den westlichen Medien. Warum konzentrieren Sie sich nicht auf Lösungen?“ Andererseits haben auch Menschen gesagt: Ah, das ist interessant. Es ist aufregend, wie jemand lokale Materialien und einheimische architektonische Elemente verwendet. Das inspiriert mich. Ich habe also Reaktionen aus beiden Richtungen bekommen.

Wie gehen Sie mit Kritik um?
Ich komme damit zurecht, denn meine Arbeit ist ja kein Vorschlag, wie die neue Skyline von Lagos aussehen sollte. Ich sehe sie eher als eine Idee, eine visuelle Erforschung zeitgenössischer Probleme, denn als architektonische Präsentation. Und ich finde sie auch nicht hässlich; ich ziehe die organischen Materialien diesen sauberen, fast sterilen westlichen Stadtbildern vor.

Haben sich auch offizielle Vertreter der Stadt bei Ihnen gemeldet?
Nein. Das ist ja auch ein sehr spekulatives Projekt. Kein Teil davon wird tatsächlich irgendwo gebaut oder ist als Lösungsvorschlag für eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt gedacht. Es ist eher ein Diskurs zum Thema Stadtentwicklung und wie Menschen überall auf der Welt marginalisiert werden.

„Meine Arbeit ist eine Vision, doch es gibt eine Wechselwirkung mit der Realität.“

Ihre Kunst könnte sich also auf die Verhältnisse in Großstädten überall auf der Welt beziehen?
Nein, überall nicht. Visuell geht es eindeutig um Lagos. Allerdings lassen sich diese Art der Stadtentwicklung und die Vertreibung ärmerer Schichten überall auf der Welt beobachten. Dieser Teil ist universell.

Erwarten Sie, dass Ihr Stil irgendwann auch Realität wird? Oder ist er wirklich einfach Science-Fiction?
Meine Arbeit ist eine Vision. Doch es gibt eine Wechselwirkung mit der Realität, weil Science-Fiction die Möglichkeiten dessen, was in Zukunft realisiert werden könnte, prägt oder erweitert. Die Gegenwart zehrt immer von Geschichten und Narrativen aus der Zukunft.

Warum komponieren und gestalten Sie lieber Dinge als in der richtigen Welt zu bauen? Was fasziniert sie daran?
Es ist die Unmittelbarkeit, mit der ich meine Vision umsetzen kann. Als Architekt muss ich so viel beachten, bevor ein Gebäude fertiggestellt werden kann. Man muss erst ungeheuer erfolgreich sein, um auf dem Niveau arbeiten zu können, das ich mir vorstelle. Man muss zu den zwei oder drei Prozent der weltberühmtesten Architekten gehören, um so Großes bauen zu können. Erschafft man jedoch spekulative Visionen, ist der einzig limitierende Faktor die eigene Fantasie. Das gefällt mir.

Wie haben Sie diese Bilder technisch hergestellt?
Ich stelle sie mit einer Mischung aus 3D-Computermodellen und Fotocollagen her. Manche der Menschen auf den Bildern sind echt, stammen von Fotos und Dokumentaraufnahmen, andere sind am Computer erschaffen. So entsteht diese besondere Anmutung.

Oktober 2020

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