Interview: Flüchtlingskrise

Epochale Herausforderung

Interview mit Entwicklungsminister Gerd Müller zu Fluchtursachen. Dazu gehören Krieg, Terror, Armut, Krankheiten, soziale Ungleichheit oder der Klimawandel.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (Foto: Michael Gottschalk/Photothek)
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (Foto: Michael Gottschalk/Photothek)

Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch wie lange nicht mehr. Worin sehen Sie die Ursachen?
Viele Krisen und Konflikte haben sich verfestigt oder sind neu ausgebrochen, sei es in Syrien, Irak, Südsudan, in Somalia oder Eritrea. Die Liste ist lang; allein in den letzten fünf Jahren sind 15 gewaltsame Konflikte hinzugekommen. Die Menschen fliehen vor Verfolgung und Gewalt. Die größte Fluchtbewegung hat der Krieg in Syrien ausgelöst. Etwa vier Millionen Menschen haben Syrien verlassen; 7,6 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Zu den häufigsten Fluchtursachen gehören auch Armut, Krankheiten, Hunger, eine rapid zunehmende soziale Ungleichheit oder der Klimawandel. Vielerorts sind es vor allem die jungen Menschen, die ihr Land verlassen, weil sie dort keine Zukunftsperspektiven sehen.

Welche Rolle und Verantwortung hat Deutschland hier?
Wir müssen uns gemeinsam um das Thema Flucht und Vertreibung kümmern. Vor allem die Europäische Union steht hier vor einer großen Bewährungsprobe. Wir brauchen dringend eine gemeinsame Flüchtlingspolitik mit fairer Lastenverteilung. Deutschland steht dabei ganz klar zu seiner Verantwortung und handelt auch. Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik müssen effektiv ineinandergreifen, so wie die Bundeskanzlerin dies in ihrem Dreiklang gefordert hat: Menschenleben retten, Schlepper bekämpfen und Flucht¬ursachen reduzieren.

"Verbesserung der Lebensperspektiven in Herkunfts- und Aufnahmeländern"

Wie und wo engagiert sich deutsche Entwicklungspolitik, um das Leid von Flüchtlingen zu mindern?
Meine Aufgabe als Entwicklungsminister ist die Bekämpfung von Fluchtursachen. Es geht um die Verbesserung der Lebensperspektiven in den Herkunfts- und Aufnahmeländern. Ich habe dazu drei Sonderinitiativen eingerichtet, den Haushalt umgeschichtet und zusätzliche Mittel bekommen. Dieses und nächstes Jahr können wir bis zu einer Milliarde Euro in diesen Bereich investieren. Wir setzen vor Ort eine Vielzahl von Projekten um. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Jordanien sichern wir die Wasser- und Sanitärversorgung in Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen. Im Libanon können mit deutscher Unterstützung 80.000 Kinder die Schule besuchen. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet entstehen Gemeindezentren für Türken und Syrer. In Südsudan lernen Rückkehrer, sich durch Landwirtschaft wieder selbst zu versorgen. Im Kosovo werden wir gemeinsam mit der Handwerkskammer Dortmund junge Menschen in Kfz-Berufen ausbilden.

Die meisten Menschen fliehen wider Willen. Was muss geschehen, damit sie in ihrer Heimat bleiben?
Die meisten Flüchtlinge, mit denen ich gesprochen habe, wollen sich in ihrer Heimat eine Zukunft aufbauen. Sie fliehen aus Verzweiflung und Not. Viele wollen wieder zurückkehren, wenn es die Lebensumstände zulassen. Es reicht nicht, wenn wir in Europa nur über Abwehrmaßnahmen nachdenken. Wir müssen dort hingehen, wo die Krisen ihre Ursachen haben, und in Entwicklung inves¬tieren. Wir brauchen Wirtschafts- und Ausbildungsprogramme für Flüchtlinge in den Herkunftsländern. Dazu gehören auch ein Rückkehrerprogramm für Flüchtlinge in ihre Heimatländer und Beratungsangebote. Entwicklungspolitik zur Bekämpfung von Fluchtursachen muss aber noch viel weiter gefasst sein. Es geht darum, die Globalisierung gerecht zu gestalten, indem wir faire Welthandelsbeziehungen schaffen. Wir brauchen soziale und ökologische Standards in den globalen Lieferketten, so dass die Menschen am Anfang des Produktionsprozesses von ihrer Arbeit leben können. Wir müssen vom Frei- zum Fairhandel kommen. Jeder Einzelne von uns kann mit seiner eigenen Konsumentscheidung dafür ein Stück Verantwortung übernehmen.

"Mit gemeinsamer Kraft die Ursachen von Flucht bekämpfen"

Muss sich die Welt jetzt dauerhaft auf mehr Flüchtlinge als früher einstellen?
Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht, acht Millionen mehr als im letzten Jahr. Die Flüchtlingskrise löst sich nicht auf, sondern sie wird immer schlimmer. Die meisten Flüchtlinge setzen bei der Flucht ihr Leben aufs Spiel und erfahren großes Leid. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Wir stehen nicht hilflos vor der Situation, sondern müssen mit gemeinsamer Kraft die Ursachen von Flucht bekämpfen. Die Flüchtlingskrise führt uns jeden Tag drastisch vor Augen: Wenn wir Hunger und Armut nicht in den Griff kriegen, kommen die Probleme zu uns. Deswegen ist die Flüchtlingskrise für uns alle eine epochale Herausforderung!

Gerd Müller ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

aus akzente 4/15

 

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