Interview

„Eine Frage der Gleichheit“

In Demokratien sollten Städte und Gemeinden mehr Befugnisse erhalten. Sie prägen den Alltag der Menschen und sind entscheidend für ihre Zufriedenheit, sagt die Soziologin Shandana Khan Mohmand vom Institut für Entwicklungsstudien an der Universität von Sussex.

Text
Friederike Bauer

Sie haben weltweit zahlreiche Studien zur politischen Teilhabe durchgeführt – wie steht es aktuell um die Demokratie?

Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Fast die Hälfte aller Länder hat heute ein demokratisches Regierungssystem, also mehr als jemals zuvor. Andererseits ist seit einigen Jahren eine gewisse Abkehr von demokratischen Werten zu beobachten. Und die Hälfte ist natürlich immer noch nur die Hälfte.

SHANDANA KHAN  MOHMAND  forscht und lehrt am Institut für Entwicklungsstudien an der Universität von Sussex. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Partizipation, Dezentralisierung und politische Ökonomie. Sie hat unter anderem über die Wahlen in Pakistan geforscht.
SHANDANA KHAN  MOHMAND  forscht und lehrt am Institut für Entwicklungsstudien an der Universität von Sussex. Ihre Forschungsschwer-punkte sind politische Partizipation, Dezentrali-sierung und politische Ökonomie. Sie hat unter anderem über die Wahlen in Pakistan geforscht.

Ist die vielzitierte Gefahr des Populismus also übertrieben?

Dieser Trend existiert zweifellos, aber er wird auch ein bisschen dramatisiert. Das hat wahrscheinlich mit der Tatsache zu tun, dass er in mindestens drei Staaten zu beobachten ist, die als etablierte und lebendige Demokratien galten: den USA, Indien und Brasilien.

Beschränkt sich die Skepsis gegenüber der Demokratie auf bestimmte Regionen?

Nein, es finden sich Beispiele und ähnliche Muster auf allen Kontinenten: Abgesehen von den schon genannten Staaten USA und Brasilien gehören dazu Länder wie Burundi, Ungarn, die Türkei oder die Philippinen.

Gibt es Unterschiede darin, was Menschen von einer Demokratie erwarten?

Alle erwarten von ihren Regierungen, dass sie sich für ihre Bedürfnisse stark machen, dass sie Rechenschaft ablegen, transparent arbeiten und der Bevölkerung Teilhabe ermöglichen. Das trifft unabhängig vom Entwicklungsstand der Länder zu. Der große Unterschied besteht in den Themen, die die Wähler beschäftigen. In fortgeschrittenen Demokratien und reicheren Ländern dreht sich die Diskussion eher um Weltanschauungen und allgemeine politische Programme. In großen Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas geht es dagegen noch sehr stark um den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Wasser, Sanitäranlagen oder Gesundheitsversorgung.

Ist den Menschen wirtschaftliches Wohl wichtiger als politische Freiheiten?

Wahlen und gesellschaftliche Freiheiten gehören eindeutig zur Demokratie. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die ganze Bevölkerung Zugang zu Ressourcen erhält und wirtschaftliches sowie soziales Wohlergehen für alle gegeben ist. Genau an diesem Punkt haben demokratische Systeme in den vergangenen 30 Jahren versagt – auch wenn Autokratien nicht mehr zu leisten vermögen.

Wie können Regierungen dieses Versagen verhindern?

Viele Regierungen haben sich zu stark auf den Markt verlassen. Aber zumindest einen Teil der Bevölkerung versorgt der Markt nicht. Hier muss der Staat einspringen und umverteilen.

Was genau sollte stärker staatlich reguliert werden?

Hauptsächlich sind das die drei Bereiche Steuer-, Gesundheits- und Bildungssys­tem. Regierungen sollten fortschrittlich und wirksam besteuern, um mit dem Geld bessere Versorgungsleistungen für alle zu ermöglichen. In den meisten Ländern ist Bildung stark nach Schichten getrennt. Ungleichheit wird noch zementiert, weil Bildung die spätere ökonomische Lage quasi vorherbestimmt. Auch Gesundheitsversorgung ist an vielen Orten der Welt nicht für alle zugänglich oder bezahlbar. Die Punkte auf dieser Liste mögen simpel klingen, aber sie gehören häufig nicht zu den Prioritäten von Regierungen. Doch ohne sie ist soziale und wirtschaftliche Mobilität schwierig. Und das führt dazu, dass Menschen von einem politischen System enttäuscht sind.

Welche Rolle spielen lokale Regierungen?

Eine sehr wichtige, weil sie letztlich die alltäglichen Dienstleistungen der Menschen bereitstellen müssen. Zudem ist das die Ebene, auf der Bürger an Entscheidungen beteiligt sein können. Deshalb ist es entscheidend, lokale Regierungen mit den entsprechenden Machtbefugnissen auszustatten.

Halten sie die Demokratie für ernsthaft gefährdet?

Der generelle Trend zu Autokratien ist deprimierend. Grundsätzlich sehe ich aber keine Alternative zur Demokratie, weil Menschen gleichberechtigt und fair repräsentiert sein und frei leben wollen. Aber Demokratien brauchen mehr Gleichheit.

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