Reportage
Digitaler Aufbruch im Irak
Die Straßen sind unheimlich still in Mossuls Altstadt. Der neun Monate andauernde Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) im Jahr 2017 legte das einst geschäftige Viertel mit seinen historischen Gebäuden in Trümmer. Auch heute ist Iraks zweitgrößte Stadt noch immer von der IS-Besatzung erschüttert, doch es gibt Zeichen des Fortschritts. Steigt man die Treppen zum Innovations-Hub „Mosul Space“ hinauf, hellt sich die Lage auf. Durch die Tür betritt man ein Großraumbüro – offen und modern. Junge Maslawis – wie die Einwohner der Stadt genannt werden – arbeiten an Ideen für die Zukunft.
Einer von ihnen ist der 23-jährige Elektronik- und Kommunikationsingenieur Salih Mahmod. Die Idee für einen Ort wie diesen hatte er bereits 2014 entwickelt. Damals, im ersten Studienjahr, war er frustriert darüber, nur aus Büchern zu lernen, anstatt auch praktische Fähigkeiten zu entwickeln. Er hatte von sogenannten „Makerspaces“ in Deutschland und anderswo gelesen. Davon war er begeistert: offene Hightech-Werkstätten, die digitale Weiterbildung, Austausch und die Möglichkeit zur Umsetzung bieten. „Ich dachte, warum nicht in unserer Stadt?”, erinnert sich Salih Mahmod. Er bestellte Rechner und Drucker. Doch 20 Tage nach der Lieferung der ersten Computer nahm der IS die Stadt ein und er musste seinen Traum erstmal zurückstellen.
Mahmods Familie flüchtete vor der Terrormiliz und fand Unterschlupf in einer ländlichen Region im Norden Iraks. Entschlossen, weiter zu machen, bot er mit Freunden improvisierte Computer- und Programmier-Seminare für Menschen aus der Region an. Als Mossul im Sommer 2017 befreit wurde, kehrte er zurück und organisierte ein Ingenieur-Festival, das mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzog. Die enorme Resonanz spornte Salih Mahmod an, seinen einstigen Traum nun wieder anzupacken.
Er beschloss, mit Gleichgesinnten einen Treffpunkt zu schaffen, wo technologiebegeisterten jungen Leuten die nötigen Fähigkeiten vermitteln werden: Programmieren, der Einsatz neuer Robotertechnik oder ein Businesstraining. Dort sollten sie Inspiration und eine Umgebung finden, um ihre Innovationen zu entwickeln: die Basis für irakische Startups. Mahmod fand einen kleinen Raum und initiierte zunächst ein Projekt, um Ersatzteile für Krankenhaus-Apparate zu produzieren. Mit Hilfe eines 3D-Druckers stellte eine Gruppe junger Leute Plastikschrauben und Räder her, die nicht vor Ort erhältlich waren. Damit reparierten sie Inkubatoren und andere Geräte, die während der Besatzung durch den IS kaputtgegangen waren. „Ein gutes Beispiel dafür, wie eine innovative Idee in der Praxis eingesetzt werden kann”, sagt Mahmod.
Schnelle Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie
Auf dieser Erfahrung konnten die jungen Kreativen aufbauen, als sie nach Wegen suchten, das medizinische Personal des Landes im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie zu unterstützen. Der Makerspace in Mossul stellte schnell auf die Entwicklung von Gesichtsschutzschildern um und kooperiert inzwischen mit den anderen vier Innovationszentren des Landes Irak. In den vergangenen Wochen wurden bereits mehr als 10.000 dieser Schilder produziert und an Krankenhäuser im ganzen Irak ausgehändigt.
Ein Erfolg des „Mosul Space“, wie sich das aus den kleinen Anfängen gewachsene Innovationszentrum in der Altstadt inzwischen nennt. Salih Mahmod hatte schon vor Jahren Kontakt zur GIZ geknüpft, die landesweit im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums den Aufbau eines Ökosystems für Tech-Startups und computerbegeisterte junge Leute fördert. Inzwischen gibt es landesweit fünf Innovationszentren. Irakerinnen und Iraker können sich dort für neue Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt qualifizieren oder auf die Selbständigkeit vorbereiten. Mehr als 5.500 Menschen haben bisher dort an Kursen oder Veranstaltungen teilgenommen. Angeboten werden etwa Seminare und Mentorenprogramme für aufstrebende Startup-Unternehmer, die für die Herausforderungen des Landes Lösungen finden wollen.
Plattform für Talente in Erbil
Und das nicht nur in Mossul. Eine Autostunde entfernt in der Autonomen Region Kurdistan liegt ein weiterer Ort voller unternehmerischer, kreativer Energie. Der Vorreiter des Co-Working-Konzepts in der Stadt Erbil heißt „Re:Coded House“. Vor der coronabedingten Ausgangssperre nutzte eine wachsende Gemeinschaft von jungen Leuten den Raum zur Entwicklung von Projekten. „Sie kommen normalerweise mit ihren Ideen hierher und wir unterstützen sie dabei, sie Wirklichkeit werden zu lassen”, erklärte Wafa Al-Attas, Beraterin für Innovationen im Irak bei der Nichtregierungsorganisation „Field Ready“.
Sie leitet das Makerspace des „Re:Coded House“ und verwaltet den Fonds für „Mosul Space“. Das Konzept sei in Erbil schnell gut angenommen worden und treibe ein junges, kreatives Umfeld an, das man vor fünf Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte, erklärte Al-Attas. Aber strenge Vorschriften, schwerfällige Bürokratie und beschränkte Infrastruktur dämpften kreative Ambitionen. Doch etwas sei in Bewegung geraten. Mit der Unterstützung der GIZ entwickelte sich das im April 2019 eröffnete „Re:Coded House“ zu einer Plattform für talentierte junge Leute, die ihre Ideen in die Tat umsetzen wollen.
Flüchtling tüftelt an Taschendesign
Vor der Coronavirus-Pandemie war abends am meisten los, wenn die Studierenden nach der Uni kamen, um an ihren Projekten zu tüfteln. Bücherregale und Raumpflanzen sorgen für eine gemütliche Atmosphäre. „Re:Coded House“ ist im Normalfall auch ein sozialer Treffpunkt. „Ich habe nicht viele Freunde in Erbil, aber das hier ist wie eine Familie”, erklärte der 26-jährige Sliman Khazal.
Der Design-Student ist vor dem Krieg aus Syrien geflohen. Er träumt davon, in der Zukunft seine Handtaschenmodelle mit eckigem, geometrischen Design auf den Markt zu bringen: „Alle hier unterstützen mich dabei, noch härter zu arbeiten und mir noch höhere Ziele zu setzen.”
Online-Kurse während der Ausgangssperre
Während der Pandemie setzen „Re:Coded House”, „Mosul Space“ und den anderen irakischen Innovationszentren vor allem auf online-Kurse und Video-Vorträge, etwa über „Software-Produkte für Zeit nach Covid19“. Die 24-jährige Computerexpertin Mallak Al-Rifaie arbeitet schon länger an solche Ideen. Sie berichtet, wie sie als einzige Frau in ihrem Uni-Studiengang zunächst mit Gegenwind kämpfen musste: „Alle meine Mitstudenten fragten mich zuerst, was ich dort zu suchen hätte.” Aber die Kommilitonen änderten schnell ihre Meinung, als sie Bestnoten bekam. Mallak Al-Rifaie hat ein digitales System entwickelt, dass es Menschen mit eingeschränkter Mobilität ermöglicht, Zuhause zu bleiben und im Notfall schnelle Hilfe zu bekommen. Außerdem fördert sie gezielt die Ausbildung von Kindern. Eine ihrer Schülergruppen gewann im vergangenen Jahr sogar einen landesweiten Robotik-Wettbewerb. „Ich habe ihnen Programmieren auf Uni-Niveau beigebracht. Sie haben es unheimlich schnell verstanden. Diese Generation ist da sehr clever“, sagt Mallak Al-Rifaie. Und ihr scheint um die Zukunft nicht bang.
Kontakt: Inga Niere, inga.niere@giz.de
Juni 2020
Die Recherche im Irak fand vor der Coronavirus-Pandemie statt. Über ihre Initiativen während des Lockdowns hielten die jungen Leute die Redaktion digital auf dem Laufenden.
Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) – Neue Job-Perspektiven für eine moderne Jugend im Irak