Porträt

Die Jugend des Libanon sucht ihre Zukunft

Im Jahr 2020 haben Katastrophen und Chaos die Hoffnungen der libanesischen Bevölkerung auf einen Wandel schwer erschüttert. Doch junge Frauen wie Mireille El Helou zeigen, dass sie an Veränderung glauben und die Energie für einen Neuanfang haben.

Text
Olivia Cuthbert

Weihnachten wäre im vergangenen Jahr in Jezzine, einer Stadt etwa 70 Kilometer südlich von Beirut, beinahe ausgefallen. Die ohnehin finanziell knappe Stadtverwaltung hielt es für unangemessen, etwas für Lichter und Schmuck auszugeben, während viele Menschen der Gegend nicht einmal genug Geld für Essen hatten. Doch eine Gruppe junger Leute hatte andere Pläne und wollte ein wenig Freude bringen – gerade am Ende eines so niederschmetternden Jahres mit einer Wirtschaftskrise, der Corona-Pandemie, Protesten und einer tödlichen Explosion im Hafen von Beirut.

Mirelle El HelouMireille El Helou  konnte die Behörden schließlich von der Aktion überzeugen. Mit anderen jungen Menschen hängte sie überall in Jezzine Lichter auf, organisierte einen Weihnachtsumzug und festliche Aktivitäten für die Jungen und Mädchen. „Ich habe den Unterschied sehen können zwischen Beirut, wo es für Kinder in geschmückten Einkaufszentren Jahr für Jahr Veranstaltungen zu Weihnachten gibt, und Jezzine, wo die Kinder so etwas zum ersten Mal zu Gesicht bekamen“, sagt die 24-Jährige, die an einer Grundschule in der Hauptstadt unterrichtet: „Es war wirklich bewegend, ich war so glücklich, das mitzubekommen.“

Menschen wie Mireille El Helou – jung, begabt und voller Leidenschaft für ihr Land – sind das Symbol einer besseren Zukunft für den Libanon, doch sie sind inzwischen rar. „Nach der Revolution 2019 haben viele die Hoffnung verloren und sie versuchen das Land zu verlassen, alle meine Freunde sind nach Deutschland oder Italien gegangen“, sagt die Lehrerin, die gerade ihren Master in Schulmanagement macht.

Christmas activities

Auf keinen Fall in die „große Politik“

Sie gehört zu einer schwindenden Minderheit, die entschlossen ist, im Land zu bleiben und Probleme zu Hause zu lösen. In die Landespolitik will sie nicht gehen, weil sie von ihr enttäuscht ist. Effektiver erscheint ihr gemeinschaftliches Engagement auf lokaler Ebene, wo sie die Erfahrung aus ihrer Lehrtätigkeit und aus ihrer Freiwilligenarbeit nutzen kann, um zunächst in ihrer Stadt und dann auch in ihrem Land etwas zum Besseren zu bewegen. Die junge Frau hatte im Herbst 2018 an Workshops teilgenommen, die von der GIZ und der Nationalen libanesischen Frauenkommission organisiert worden waren. Sie sind Teil des Projekts „Stärkung von Frauen in führenden Positionen in Verwaltung und Zivilgesellschaft  im Nahen Osten“ (LEAD). Im Auftrag des Bundesentwicklungsministerium, als Teil der Sonderinitiative zur Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost, fördert es die politische Teilhabe von Frauen in der Region (Palästinensische Gebiete, Jordanien und Libanon). Durch Fortbildungen, Mentoring und die Unterstützung weiblich geführter Gemeinschaftsprojekte werden Frauen darin bestärkt, sich in der lokalen Politik und Lokalentwicklung zu engagieren.

Kommunalpolitikerinnen beim regionalen Mentoringprojekt von LEAD in 2019 © Mohammad Magaydah
Kommunalpolitikerinnen beim regionalen Mentoringprojekt von LEAD in 2019 © Mohammad Magaydah

Nach ihren LEAD-Trainings startete die junge Libanesin eine Jugendinitiative. Mireille El Helous Ansatz ist einfach, aber wirkungsvoll. Mit einem Jugendkomitee in ihrer Heimatgemeinde hat sie ein Sprachrohr für Jugendliche geschaffen, das von den Behörden gehört wird und Teenager angeregt, aktiv an der Verbesserung ihrer unmittelbaren Umwelt mitzuwirken – wie bei der Weihnachtsaktion. „Es ist eine Art Podium für die Jugend, auf dem viele ihre Meinung sagen, Ideen und Wünsche für die Entwicklung Jezzines ausdrücken können“, sagt der stellvertretende Bürgermeister Samer Aoun, der das Komitee unterstützt. Er findet es gut, dass sich junge Menschen engagieren und eine aktive Rolle im Stadtleben wollen.

Das ist nicht überall der Fall, weiß Mireille El Helou, die für Jugendbeteiligung auch andernorts Werbung macht. „In einer andere Kommune wurde ich von einem Bürgermeister abgewimmelt; er würde sich für solche Sachen nicht interessieren.“ Doch sie lässt sich nicht entmutigen, denn es gibt nach ihrer Einschätzung immer mehr Verantwortliche in den kommunalen Verwaltungen, die empfänglich sind für mehr Teilhabe junger Menschen. Die Lehrerin beschäftigt sich auch intensiv mit der Wechselwirkung von Schulen und kommunalen Verwaltungen. Ihr langfristiges Ziel ist es, Gemeinden hier bei der Entwicklung eines Lehrplans zur politischen Bildung besonders für Teenager zu unterstützen. Aus Mireille El Helous  Sicht sollen Kommunen künftig mehr bewegen und nicht nur grundlegende Infrastruktur bieten.

Mit dieser Motivation hat sie auch einen Frauenkiosk in Jezzine gegründet und wurde dabei durch einen LEAD-Fonds für Gemeinschaftsprojekte unterstützt. Der Treffpunkt ist an einem sonnigen Berghang in der Umgebung der kleinen Stadt gelegen. Hier können Frauen zusammenkommen, reden, Musik hören und feiern. Zudem bietet er einigen von ihnen Verdienstmöglichkeiten. Die Frauen verkaufen Essen und Kunsthandwerk an Wanderinnen und Wanderer, die die schöne Gegend gerne besuchen. Während der Corona-Pandemie musste der Frauenkiosk von Jezzine schließen. Aber Mireille El Helou und ihre Mitstreiterinnen planen schon neue Veranstaltungen für die Zeit danach.

Karate-Kick einer Frau

Als 2019 Hunderttausende auf die Straße gingen, um bessere wirtschaftliche Chancen, politische Reformen und das Ende der Korruption  zu fordern, waren viele weibliche Gesichter in den ersten Reihen zu finden. „Unsere Oktoberrevolution begann mit einer Frau, und darauf sind wir wirklich stolz“, sagt Mireille El Helou  und bezieht sich auf das wirkungsvolle Bild einer jungen Frau, die sich mit einem Karate-Kick gegen einen bewaffneten Politiker-Leibwächter zur Wehr setzte – zu sehen in einem Handyvideo, das sich schnell verbreitete: „Das gab allen Frauen echte Hoffnung.“ Vorher hätten viele Angst davor gehabt, ihre Meinung zu sagen oder auf der Straße zu protestieren. Doch die Massenbewegung von 2019 habe solche politischen Diskussionen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft und der Öffentlichkeit gedrängt, meint Mireille El Helou. „Das sieht man bei Influencerinnen genauso wie bei ganz normalen Libanesinnen, die auf Twitter politische Kommentare abgeben.“

Der Wunsch nach Veränderung brodelte seit 2011

Der Wunsch nach Veränderung brodelte im Libanon unterschwellig, seit im Jahr 2011 eine massenhafte Protestwelle durch die arabischen Länder geschwappt war und der Frust über das jahrzehntelange Versagen zahlreicher Regierungen sich Bahn brach. Mireille El Helou ging zur Schule, als der Arabische Frühling ausbrach, doch wie alle spürte sie seine Wirkung. „Als meine Eltern jung waren, wurde alles immer auf die gleiche vorgegebene Weise getan, aber Menschen meines Alters wollen das nicht mehr akzeptieren; wenn wir etwas wollen, dann arbeiten wir daran, diese Veränderung herbeizuführen.“

Und manchmal sind es scheinbar kleine Schritte in der Provinz, die Veränderungen anzeigen. In Jezzine sind in den vergangenen Jahren immer mehr weibliche Stadträte gewählt worden, und Mireille El Helú gehört zu einer zunehmenden Zahl junger Frauen, die sich in kommunalen Belangen engagieren. „In der Vergangenheit wollte mal eine Verwandte von mir in den Stadtrat, aber meine Familie lehnte das ab, weil sie eine Frau war. Heute ist das nichts Besonderes mehr“, sagt sie: „Frauen werden anders angesehen.“

März 2021

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