Sozialarbeit in den Vereinigten Staaten

Aufbruch aus dem Alltag

Gute Sozialarbeit braucht erfahrene Fachkräfte. Ein Fortbildungsprogramm in den USA für deutsche Experten aus der Kinder- und Jugendhilfe weitet den Blick.

Text
Christine Mattauch
Fotos
Max Herman

Hausbesuch bei einer Pflegefamilie an der East Side. Der dunkelbraune Geländewagen mit den beiden Sozialarbeiterinnen biegt in die Einfahrt des kleinen Einfamilienhauses, die Pflegemutter wartet schon auf der Veranda. „Es geht um einen Jungen, bei dem erst die Mutter, dann die Großmutter versagte“, hatte Kelly Allen ihrer Kollegin Ingrid Bethge während der Fahrt berichtet. „Jetzt, bei dieser Familie, scheint es ihm endlich gut zu gehen.“

Das Wohnzimmer ist schlicht, aber gemütlich. Ein breites Sofa, eine antike Weltkarte an der Wand, ein Topf gelber Astern vor dem Fenster. Bethge, eine mütterliche Frau mit kurzen Locken und roter Brille, setzt sich in einen grauen Plüschsessel, beugt sich vor und beginnt zu fragen: Wie fühlt es sich an, wenn man plötzlich einen Sechsjährigen im Haus hat? Gibt es für schwierige Zeiten ein Netzwerk? Die Pflegemutter antwortet geduldig. Dann lacht sie plötzlich. „Sie stellen gute Fragen“, sagt sie, „und Sie haben so einen wunderschönen Akzent.“

Sozialpädagogin Ingrid Bethge mit einer US-amerikanischen Kollegen an ihrem Arbeitsplatz in Kalamazoo.
Sozialpädagogin Ingrid Bethge mit einer US-amerikanischen Kollegen an ihrem Arbeitsplatz in Kalamazoo.

Gefragt sind Sozialpädagogen mit Berufserfahrung

Es ist Tag 59 in Ingrid Bethges neuem Leben in Kalamazoo, einer 75.000-Einwohner-Stadt zwischen Chicago und Detroit. Drei Monate lang sammelt die deutsche Sozialarbeiterin im Rahmen eines Fachkräfteaustauschs Erfahrungen jenseits des Atlantiks. Sie absolviert ein Praktikum bei Bethany, einer gemeinnützigen Organisation für Familienhilfe. Begleitet amerikanische Kolleginnen zu Hausbesuchen und zum Gericht. Besucht Vorlesungen an der Western Michigan University. Wohnt bei Gastfamilien. Das Ganze erinnert an einen Schüleraustausch. Nur ist Bethge 55 Jahre alt und Führungskraft. Die gelernte Krankenschwester hatte sich nach einer Familienpause zur Sozialpädagogin weitergebildet. Seit sieben Jahren arbeitet sie nun bei KarLa, einem gemeinnützigen Verein für Familienhilfe in Weingarten bei Karlsruhe.

Sie ist Teamleiterin und Mitglied der Geschäftsführung. Das ist viel Verantwortung – aber auch viel Routine. Im vergangenen Jahr wurde Bethge unruhig. „Die Aufbruchsstimmung der Anfangszeit war verflogen. Ich wollte KarLa nicht verlassen, doch ich brauchte etwas Neues.“ Sie bewarb sich bei dem transatlantischen Fachkräfteaustausch, den die GIZ seit 2013 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums organisiert. Er richtet sich gezielt an Sozialpädagogen mit Berufserfahrung. Zehn dürfen jedes Jahr zu einem Praktikum in die USA. Einige kommen nach Kalamazoo, andere nach Chicago oder Columbus, Ohio. Sie hospitieren bei Gesundheitsbehörden, in Aufenthaltsheimen für vernachlässigte Jugendliche oder Hilfseinrichtungen für Immigranten. „Es bietet eine Horizonterweiterung und Anstöße, den Arbeitsalltag zu verändern“, sagt Barbara Vogt-Seeliger, die das Programm für die GIZ koordiniert. „Man hat, wenn man 40 oder 50 ist, ja noch einige Berufsjahre vor sich.“

Transatlantischer Fachkräfteaustausch


Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führt die GIZ gemeinsam mit der amerikanischen Partnerorganisation Council of International Programs das Fortbildungsprogramm in den USA für Fachkräfte aus dem Sozialbereich der Kinder- und Jugendhilfe durch. Ziel des Programms ist es, die vielfältigen deutsch-amerikanischen Beziehungen durch den Austausch motivierter Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zu vertiefen und sowohl den teilnehmenden Fachkräften selbst als auch dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt durch einen transatlantischen Brückenschlag Impulse und Motivation für neue Ansätze zu geben.

Für eine gestandene Praktikerin ist es nicht leicht, zurück in die Rolle der Lernenden zu schlüpfen: „Es kostet alle Energie, die ich habe“, sagt Bethge. Mit ihrer optimistischen, unerschrockenen Art gewinnt sie Fremde jedoch schnell für sich. Das hilft ihr im Wohnzimmer von Pflegeeltern ebenso wie bei den Gastfamilien, die im Drei-Wochen-Rhythmus wechseln.

Der winzige Schreibtisch, mit Notizzetteln für die vielen Abkürzungen aus der sozialen Arbeit in den USA.
Der winzige Schreibtisch, mit Notizzetteln für die vielen Abkürzungen aus der sozialen Arbeit in den USA.

Morgens nimmt sie den Bus Nummer 14 bis zur Station „Walmart“, läuft dann über den Parkplatz zu dem flachen Ziegelbau von Bethany. Im Souterrain ist ihre Abteilung, „Foster Care“. Rund 30 Mitarbeiter sitzen auf engstem Raum, oft nur getrennt durch einen Sichtschutz. Über Bethges Schreibtisch hängen handgeschriebene Zettel: „Truancy – Schulverweigerung“, „CSP – Case Service Plan“. „Auch nach zwei Monaten kann ich mir nicht alles merken“, seufzt sie. Dann geht sie ins fensterlose Büro ihrer Vorgesetzten, Jamie Prewozniak. Beginn der Teamsitzung. Die Kolleginnen falten die Hände und beten.

Unterschiedliche Vorstellungen von Sozialarbeit

Religion spielt im Mittleren Westen der USA eine ungleich größere Rolle als in Deutschland. Bethge, selbst evangelisch, hat mit einiger Überraschung registriert, dass bei der Resozialisierung Straffälliger der Gottesdienstbesuch als genauso wichtig angesehen wird wie eine Therapiestunde. Sie hebt die Schultern. „Tja, so ist das hier.“ Beim Vorbereitungsseminar der GIZ wurde den Teilnehmern eingeprägt, dass sie nicht nach Amerika gehen, um das Land zu verändern. „Das war ein wichtiger Hinweis“, sagt Bethge.

In Kalamazoo erlebt sie immer wieder, wie unterschiedlich Sozialarbeit begriffen werden kann. Langzeitpflege wie in Deutschland gibt es nicht – meist wird bereits nach zwölf Monaten entschieden, ob die leiblichen Eltern ihr Leben in den Griff bekommen haben und das Kind zurückkehren kann. Wenn nicht, wird es zur Adoption freigegeben. Als Bethge das hörte, war sie bestürzt. „Diese endgültige Entscheidung wird so schnell getroffen?“ Doch als sie den amerikanischen Kolleginnen das deutsche System erklärte, waren die schockiert. „Sie konnten nicht verstehen, dass wir die Kinder so lange im Schwebezustand lassen. Ein Kind brauche doch Sicherheit.“

Teamsitzung im Kreis der Sozialarbeiterinnen bei Bethany.
Teamsitzung im Kreis der Sozialarbeiterinnen bei Bethany.

Die fremde Spiegelung des eigenen Blicks, das Zulassen von Zweifeln – das ist vielleicht der größte Gewinn des Programms. „Ingrid bringt eine Menge Erfahrungen mit“, sagt Prewozniak, ihre Betreuerin. „Wir reden viel über die Unterschiede zwischen dem amerikanischen und deutschen System. Das hilft nicht nur ihr, sondern auch uns.“

Da gab es diese Szene vor Gericht. Jeden Donnerstag begleitet Bethge eine Kollegin zu einer Sorgerechtsverhandlung. Sicherheitsschleuse, Waffenkontrolle, Videoüberwachung – daran hatte sie sich bereits gewöhnt. Auch an den Verhandlungssaal, der so aussieht, wie man es aus Filmen kennt: mit einer respekteinflößenden Richterempore aus dunklem Holz. Doch dann wurde die Mutter in den Saal geführt – mit Handschellen und Fußfesseln. Sie saß wegen Drogenmissbrauchs in Untersuchungshaft. Bethges Bethany-Kollegin Kelly Allen erinnert sich: „Für mich war der Auftritt normal, aber Ingrid wurde ganz blass. Das hat mich nachdenklich gemacht. Bin ich vielleicht schon abgestumpft?“

Videogestützte Elternberatung

Andererseits begegnet Bethge vielem, das vorbildlich ist. Das Niveau der Traumaarbeit beeindruckt sie: Misshandelte Kinder werden intensiv von Spezialisten betreut. Sie lernt neue Methoden, etwa wie Kinder die Familiensituation im Sandkasten nachstellen. Auch die effiziente Arbeitsorganisation gefällt ihr. Sie wiederum ergänzt das Repertoire ihrer Kolleginnen um videogestützte Elternberatung. So erfolgreich ihr Praktikum auch verläuft – nicht alles geht glatt. „Es kommt vor, dass ich vergessen werde“, sagt sie und hat plötzlich eine ganz kleine Stimme. Böse Absicht ist das nicht – in den USA sind Zusagen nur nicht so verbindlich wie in Deutschland.

Ihr Mann Klaus, ein Ingenieur, und ihre vier erwachsenen Kinder haben den Ausflug ins Unbekannte unterstützt. Der Freundeskreis in Stutensee, einer ländlichen Gemeinde zwischen Heidelberg und Karlsruhe, hingegen reagierte verunsichert. „Wir denken an Rente und du gehst ins Ausland“, sagte eine Freundin fast vorwurfsvoll. Bethge lernte: Wer sich auf neue Wege begibt, stellt auch den Status quo der anderen in Frage.

Auf dem Weg zur wöchentlichen Vorlesung an der Universität.Neue Methoden: Bethge lernt, wie traumatisierte Kinder mit Tieren im Sandkasten ihre Familiensituation nachstellen können.Der Aktivist Don Cooney spricht über soziale Gerechtigkeit. Bildergalerie: In Deutschland Chefin, in den USA wieder Lernende.

Jeden Mittwochabend besucht sie eine Vorlesung in Sozialpolitik, die Don Cooney gibt, ein Stadtrat in Kalamazoo und charismatischer Aktivist. Der 77-Jährige entfacht unter den Studenten hitzige Diskussionen über Polizeigewalt, Bildungschancen, die Flucht der Weißen in die Vororte. Der ungewohnt emotionale Ton des Seminars rüttelt Bethge auf, „manchmal kann ich nachts nicht schlafen“.

Was wird sie mitnehmen nach Deutschland? Viele praktische Ideen: Checklisten, die den Alltag erleichtern. Mehr digitales Fortbildungsmaterial – Bethanys Onlinekurse haben ihr imponiert. Die Absicht, den Verein stärker für Besucher von außen zu öffnen – das ist auch fürs Spendensammeln gut. Doch sie hat auch gemerkt, woran es in Amerika fehlt: an Prävention. An Programmen, die greifen, bevor ein Konflikt eskaliert. In Deutschland haben Familien darauf sogar einen gesetzlichen Anspruch. „Ich kehre auch mit Dankbarkeit zurück“, sagt Bethge. „Erst jetzt kann ich richtig würdigen, was unser Sozialsystem alles ermöglicht.“

Ansprechpartnerin: Barbara Vogt-Seeliger barbara.vogt-seeliger@giz.de

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