Kosovo
Neustart in der Heimat
In den Händen einen Stapel Broschüren, mit den Augen auf der Suche nach großen, karierten Mehrzwecktaschen: So wartet Naim Basha regelmäßig am Gepäckband im Flughafen Priština. „Ura“, das albanische Wort für „Brücke“, steht auf Bashas Infoblättern. Sie richten sich an Menschen, die Kosovo mit der Hoffnung verlassen haben, in Deutschland Asyl zu erhalten und ein besseres Leben zu führen. Eine trügerische Hoffnung: Einen asylrechtlichen Schutzstatus bekommt nach sorgfältiger Einzelfallprüfung fast niemand aus Kosovo, zumal es als sicherer Herkunftsstaat gilt. Einige haben für ihren Traum alles aufgeben, ihr letztes Erspartes in die Reise gesteckt. In den Mehrzwecktaschen, die sie in Deutschland vor der Rückführung oder der freiwilligen Ausreise nach einem abgelehnten Asylantrag bekommen, befindet sich oft ihr einziger Besitz.
Der Psychologe Basha arbeitet für das Reintegrationsprojekt Ura. Zusammen mit einem Team aus Sozialberatern und Arbeitsvermittlern bietet er Hilfe beim Neustart in der Heimat an. Freiwillig nach Kosovo zurückgekehrt sind 2015 und 2016 insgesamt 13.524 Menschen. In diesen beiden Jahren haben Basha und seine Kollegen 9.763 Rückkehrer beraten. Im ersten Halbjahr 2017 waren es bisher 1.323 Klienten. Die GIZ setzt das Projekt im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge um, das bereits seit zehn Jahren Reintegrationsprojekte in Kosovo organisiert.
Die Herausforderungen für die Rückkehrer sind riesig: Es ist extrem schwierig, in Kosovo Arbeit zu finden. Im dritten Quartal 2016 waren fast 28 Prozent der Kosovaren arbeitslos, unter den Jugendlichen war es sogar jeder Zweite. Zudem lebt immer noch knapp ein Drittel der Bevölkerung in Armut. Die Spuren des Krieges zeigen sich in vielen Häusern – oft stehen sie nur im Rohbau da. Schwache Strukturen und Korruption prägen das Land.
Hinhören, was genau die Menschen brauchen
Den Rückkehrern, die meist seit vielen Jahren in Deutschland gelebt haben, fehlt in der Heimat ein Netzwerk: Freunde und Bekannte, die ihnen helfen könnten, einen Job zu finden. Doch zugleich gibt es in Kosovo Branchen, in denen es – gerade für Rückkehrer – gute Chancen gibt, etwa in Callcentern und der IT. Zudem ist das Land mit 43,5 Prozent unter 25-Jährigen der Staat mit der jüngsten Bevölkerung Europas. Das birgt auch Potenzial.
In ihrem Beratungsbüro helfen Basha und seine Kollegen den Rückkehrern dabei, eine Perspektive zu entwickeln. Dazu gehört erst einmal herauszuhören, was genau die Menschen benötigen, was sie können und vor allem auch wollen. Für individuelle Bedürfnisse sollen hier passgenaue Lösungen gefunden werden. Die Berater erzählen von einer alleinerziehenden Mutter, die nach dem Tod des Ehemanns mit ihren beiden Söhnen nach Deutschland ging. Dort bekam sie kein Asyl. Nach ihrer Rückkehr unterstützte das Zentrum die Witwe bei der Wohnungssuche und beim Kauf von Kleidung und Schulmaterial. Außerdem war die Frau seelisch stark belastet, berichtet Basha.
Im Rückkehrerzentrum gibt es auch eine Arbeitsvermittlung. Korab Lekaj, der neben Basha sitzt, ist dafür zuständig. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, in der Heimat neu anzufangen. Lekaj hat während des Kosovokrieges fünf Jahre in der Schweiz gelebt. Seit 2007 informiert er andere Rückkehrer über die Möglichkeiten auf dem kosovarischen Arbeitsmarkt – auch über Fortbildungen und Praktika. „Leider ist das Qualifikationslevel häufig nicht sehr gut“, berichtet Lekaj. Doch viele der Männer und Frauen haben einen Vorteil: die zusätzliche Sprache. „Zurzeit gibt es auf dem Arbeitsmarkt gute Möglichkeiten für deutschsprachige Rückkehrer“, berichtet der Vermittler auf Deutsch. In Kosovo siedeln sich Callcenter eigens an, weil viele der Einwohner mehrere Sprachen sprechen. Wie viele der bei Ura Ratsuchenden dort tatsächlich eine Arbeit gefunden haben, dazu gibt es bisher keine Zahlen.
Auf Zukunft programmiert
Auch die IT-Branche in Kosovo entwickelt sich. Blerina Berisha arbeitet in Priština für ein Start-up. Die 22-jährige Informatikerin sitzt in einem modernen, hellen Büro mit offener Küche und Blick über die Stadt. „Get shit done“ steht auf einem Poster an der Wand. Etwa acht Mitarbeiter, alle in den Zwanzigern, programmieren hier Apps. „Kosovo ist ein beliebtes Ziel für das Outsourcing von App-Entwicklung“, sagt Berisha. Die App, die sie selbst gerade entwickelt, ist für den Österreichischen Automobil-, Motorrad- und Touringclub. Berisha überlegt, sich für ein Zusatzstudium in Deutschland zu bewerben. Sie hat Pläne: „Es gibt eine App, die ich gern selbst kreieren würde, aber das steht noch am Anfang.“ Beim Deutschen Informationszentrum für Migration, Ausbildung und Karriere (DIMAK) in Priština hat sie sich schon über die Bedingungen für ein Studium in Deutschland informiert.
Das Zentrum klärt über legale Wege nach Deutschland auf, warnt aber auch vor den Risiken illegaler Einreise. Zugleich berät es zu Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten in Kosovo. Damit steht es auch Rückkehrern offen. Es ist ein Beratungsangebot des Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM), einer Arbeitsgemeinschaft der GIZ und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit. Das Zentrum wurde im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aufgebaut.
Digitale Moderne hier, Abgeschiedenheit dort
Blerina Berishas Chef Bujar Muliqi, der das Büro des österreichischen App-Entwicklers OpenResearch in Priština seit zweieinhalb Jahren leitet, ist optimistisch, was die IT-Branche in seinem Heimatland angeht. „Kosovo wird vielleicht nicht das Silicon Valley, aber es hat Potenzial“, sagt er. Einer seiner Mitarbeiter hat das Unternehmen bereits verlassen, um eine eigene Firma zu gründen.
In Priština mögen Callcenter und die IT-Branche neue Chancen bieten, die Mehrheit der 1,8 Millionen Kosovaren lebt jedoch fernab der Hauptstadt. Zweieinhalb Stunden Autofahrt von Priština entfernt liegt das abgeschiedene Dorf Reka e Allagës. Über die Nationalstraße geht es Richtung Westen, dann über Serpentinen vorbei an steilen Felsen und über einen holprigen Waldweg. Die Kinder von Mustafë und Fetije Nikçi leben bei den Großeltern im Tal, die Eltern sind auf ihrem Hof in den Bergen eines Naturschutzgebiets an der Grenze zu Montenegro und Albanien geblieben.
„Hier gibt es nicht einmal Internet und alles, was die Jugend sonst noch so braucht“, sagt Mustafë Nikçi. Er und seine Frau leben umgeben von Wald und Weiden in einem großen Holzhaus mit Blick auf schneebedecktes Gebirge. Die Kulisse erinnert an die Schweizer Alpen. Wie es dort aussieht, weiß Mustafë Nikçi. Der 54-Jährige, dessen Gesicht unter dem traditionellen Filzhut von Wind und Sonne gegerbt ist, hat in den 1990er Jahren einige Zeit in der Schweiz in der Forstwirtschaft gearbeitet.
Bildergalerie: In seinem Gästehaus Ariu können Wanderer in gemütlichen Zimmern übernachten.
Er blickt von der Terrasse in die Ferne, ein kräftiger Wind rauscht durch die Bäume. „Nach dem Krieg war hier alles zerstört.“ Viele der früher 100 Häuser blieben Ruinen, nur noch 30 Familien leben im Dorf. Nikçi hat das niedergebrannte Haus seiner Familie wieder aufgebaut, dazu noch ein Gästehaus, das er an Wanderer vermietet. Frisch bezogene Decken liegen auf Doppelstockbetten, der Holzboden ist mit Teppichen in warmen Farben bedeckt – etwas zusammengewürfelt, aber gemütlich sieht es aus. Hier oben hat Nikçi zusammen mit seiner Frau ein kleines Paradies für Wanderer aufgebaut.
Wandertourismus an den „Peaks of the Balkans“
Seit 2010 hat die GIZ in dem Dreiländereck Routen markiert und Kartenmaterial erstellt – 192 Kilometer Wanderwege sind entstanden. Seitdem lockt die Route „Peaks of the Balkans“ Touristen und Wanderführer aus Deutschland und anderen Ländern zu den Nikçis. Die GIZ unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Familienbetrieb dabei, sein Angebot auf Wanderer zuzuschneiden und auszubauen – damit auch die jüngeren Landbewohner in der Bergregion eine Zukunft haben.
Mehr als 700 Touristen haben 2016 bei ihnen übernachtet, sagt Mustafë Nikçi. Oft bieten er und seine Frau auch für Gäste anderer Unterkünfte im Dorf Mittagessen an. Paprikasuppe mit Rouladen, hausgemachter Joghurt, frisches Brot und handgemachter Käse sowie das traditionelle Gebäck Flia – auf dem Tisch ist kaum noch die Tischdecke zu sehen. Dazu gibt es selbstgebrannten Raki.
Vor allem viele Deutsche haben den Hof im Sommer für sich entdeckt. 25 Euro kostet die Übernachtung mit Vollverpflegung. Die Kinder der Nikçis verwalten im Dorf die Buchungen, die über das Internet eingehen. Ganz ohne IT geht es eben nicht.
Ansprechpartner:
Reintegrationsprojekt URA: ura.kosovo@bamf.bund.de
Tourismus: Ottilie Mooshofer > ottilie.mooshofer@giz.de
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NEUE PERSPEKTIVEN
Projekt: Reintegrationsprojekt „Ura“
Auftraggeber: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Politischer Träger: Innenministerium des Kosovo
Laufzeit: jährlich seit 2016