Reportage

Kettenreaktion einer Krise

Nach einer Dekade vorsichtiger Fortschritte hat die Coronavirus-Pandemie in Kolumbien soziale und ökologische Konflikte verschärft. Eine Reportage darüber, wie Menschen in der Krise leben – und über zarte Pflänzchen der Hoffnung.

Text
Katharina Wojczenko
Fotos
Andrés BO

Sie kamen am helllichten Tag mit Bussen ins Schutzgebiet. Über 400 Menschen. Was sie nicht mit  Macheten fällen konnten, brannten sie ab. „Wie die Fackelträger bei den Olympischen Spielen sind sie hier herumgelaufen“, sagt John Castiblanco von der Umweltschutzstiftung „Red del Agua“ (Wassernetzwerk). Mit Hacken, Schaufeln und Pickeln trennten sie die Parzellen ab und ebneten sie ein. Männer mit Schusswaffen wiesen Grundstücke zu. Sie sammelten auch das Geld ein und lieferten es beim Chef der Landmafia ab, berichtet Castiblanco. Als die Umweltbehörde Ende Juni nach ein paar Tagen mit Polizei und Armee kam, war es zu spät. Sie ließ neun Menschen festnehmen und riss die schon errichteten Hütten aus Stämmen, Plastikplanen und Blech wieder ab. Doch mehr als 80.000 Bäume im Parque Entrenubes waren gefällt geworden.

Anstehen für eine kostenlose Mahlzeit in Bogotá: Weil sie kaum noch etwas verdienen, sind Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen auf Spenden angewiesen.
Anstehen für eine kostenlose Mahlzeit in Bogotá: Weil sie kaum noch etwas verdienen, sind Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen auf Spenden angewiesen.

Die 18 Hektar zerstörter Anden-Hochwald liegen im größten Schutzgebiet im Südosten von Bogotá und sind für die Luftqualität und das Trinkwasser der Stadt besonders wichtig. Mindestens vier Quellen haben die Landräuber verschüttet. „Die Arbeit von 20 Jahren Wiederaufforstung haben sie zerstört“, sagt Castiblanco. Dramatisch in einem Land, das mit seinen Waldflächen und seiner Artenvielfalt auch eine große Rolle beim globalen Klima- und Umweltschutz spielt.

„Wir hatten schon immer das Problem, dass sich gerade am Stadtrand Menschen illegal in Schutzgebieten niedergelassen haben“, sagt Carolina Urrutia, die Leiterin der Umweltbehörde des Distrikts Bogotá. „Doch die Corona-Pandemie hat dieses Problem in ganz Bogotá verschärft.“ Zwar habe die Umweltbehörde mitbekommen, was im Parque Entrenubes passierte, sagt Urrutia. Doch handeln konnte sie erst einmal nicht. Zum einen, weil es ohne Polizeischutz zu gefährlich war. Zum anderen, weil die sogenannte Landmafia besonders viele Familien mit Kindern unter falschen Versprechungen ins Schutzgebiet gekarrt hatte. „Wir können diese Menschen nicht einfach vertreiben, sondern müssen ihnen eine Lösung anbieten“, sagt Urrutia: „Dafür mussten Wohn- und Sozialbehörde eingeschaltet werden. Das dauert.“

 

SEEG-Missionen

 

Kolumbien gehört zu den Ländern, die die Schnell Einsetzbare Expertengruppe Gesundheit (SEEG) im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie unterstützt. Bis Ende 2020 werden es weltweit 38 SEEG-Einsätze sein. Fragt ein Land deutsche Unterstützung an, stellt das bei der GIZ angesiedelte Kernteam Expert*innen für den Einsatz zusammen. Die GIZ wird vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin und dem Robert Koch-Institut unterstützt. Seit Beginn der Pandemie ist auch das Team von Professor Jan Felix Drexler des Instituts für Virologie der Berliner Charité mit dabei. In Kolumbien wurde ein Austausch zwischen Einrichtungen öffentlicher Gesundheit und der Charité etabliert. Die SEEG stärkte die Diagnostik im Nordosten des Landes, wo viele Flüchtlinge aus Venezuela leben, und lieferte 80.000 Nachweistests aus. Insgesamt hat die SEEG bisher Coronavirus-Tests für rund 1,2 Millionen Menschen sowie Laborausstattung bereitgestellt. Initiiert wurde die SEEG als Reaktion auf die Ebola-Krise durch das BMZ und das BMG.

 

Kontakt: Michael Nagel, michael.nagel@giz.de

Kein Einkommen, kein Dach über dem Kopf

Unter den von der Landmafia illegal Umgesiedelten waren vor allem kolumbianische Binnenvertriebene und Menschen aus Venezuela. Die einen waren vor dem bewaffneten Konflikt geflohen, der jahrzehntelang in einigen Regionen Kolumbiens tobte und der auch nach dem Friedensabkommen zwischen FARC-Guerilla und Staat längst noch nicht der Vergangenheit angehört. Die anderen sind vor der Wirtschaftskrise und dem Regime von Präsident Nicolás Maduro in Venezuela geflohen. Alle kamen in der Hoffnung in die kolumbianische Hauptstadt, dort ein besseres Leben zu beginnen.

Schon vor der Pandemie hatten viele von ihnen von der Hand in den Mund gelebt, mit Gelegenheitsjobs oder indem sie auf der Straße oder in Bussen Süßigkeiten, Kaffee oder andere Kleinigkeiten verkauften. Als im März 2020 in Kolumbien wegen der Coronavirus-Pandemie eine der längsten Ausgangssperren der Welt begann, fiel ihr Einkommen weg. Mehr als fünf Monate. Die Menschen im informellen Sektor konnten weder im Homeoffice arbeiten, noch waren sie irgendwie sozial abgesichert. Viele wurden aus ihren Wohnungen geworfen, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen konnten. Zwar hatte die Regierung von Präsident Iván Duque dies anfangs verboten. Doch hielten sich viele Vermieterinnen und Vermieter in Bogotá nicht daran. Und als das Dekret Ende Juni auslief, fiel auch dieser Schutz weg.

Spuren der Zerstörung im kolumbianischen Naturschutzgebiet Parque Entrenubes, das für die ­Wasserversorgung der Millionenmetropole Bogotá wichtig ist.
Spuren der Zerstörung im kolumbianischen Naturschutzgebiet Parque Entrenubes, das für die ­Wasserversorgung der Millionenmetropole Bogotá wichtig ist. 

 

Flüchtlinge ohne soziales Netz

„Für die Migrantinnen und Migranten aus Venezuela ist die Situation besonders hart, weil sie kein familiäres Netz in Bogotá haben“, erklärt Ana Karina García. Die Venezolanerin ist Anwältin und eine der Gründerinnen der Stiftung „Juntos Se Puede“ (Zusammen schaffen wir es). Viele bekämen keine Mietwohnung, weil man dafür kolumbianische Bürgen oder Grundeigentum als Sicherheit vorweisen müsse. Da blieben oft nur die teuren „pagadiarios“, Massenunterkünfte, die tageweise bezahlt werden. Ein großes Problem sei auch die fehlende Krankenversicherung, sagt García: „Migrantinnen und Migranten werden nur in Notfällen kostenlos behandelt.“ Die Angst vor Covid-19 sei groß. In dieser schwierigen Lage wächst insgesamt der psychosoziale Druck auf Flüchtlinge, die sich in der Krise zunehmender Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt sehen. Vor der Pandemie konzentrierte sich „Juntos Se Puede“ darauf, für Landsleute aus Venezuela Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten, damit diese ihre neue Heimat besser kennenlernen und wirtschaftlich Fuß fassen. Doch mit dem Coronavirus hat sich die Arbeit verändert. Im Auftrag der kolumbianischen Regierung verteilte die Stiftung in Bogotá Lebensmittelpakete an 15.000 venezolanische Familien mit Kindern. Zum Überleben.

Kolumbien hat weltweit die meisten Flüchtlinge aus Venezuela aufgenommen. Etwa 1,8 Millionen von ihnen waren zu Beginn der Corona-Krise nach Angaben der kolumbianischen Migrationsbehörde im Land, rund ein Fünftel davon in Bogotá. Während der Pandemie ist ihre Zahl erstmals gesunken. Trotz der allgemeinen Grenzschließung zwischen März und Mitte August verließen etwa 100.000 Venezolanerinnen und Venezolaner Kolumbien. Venezuelas Regierung hatte wöchentlich kleinen Gruppen den Grenzübertritt erlaubt.

Wer keinen Platz in einem der wenigen humanitären Sonderbusse zur Grenze bekam, ging in seiner Verzweiflung unerlaubterweise zu Fuß – denselben gefährlichen Weg zurück, den viele von ihnen einst nach Kolumbien genommen hatten. Alle angetrieben von dem Wunsch, in Krisenzeiten bei der Familie in Venezuela zu sein und daheim mietfrei zu wohnen. In der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta stauten sich zeitweise 2.300 Migrantinnen und Migranten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in einer Zeltstadt aus Plastikplanen.

Im Herbst 2020 brachen viele Venezolanerinnen und Venezolaner wieder Richtung Kolumbien auf – in der vagen Hoffnung auf Arbeit dort. Denn zum 1. September hob die Regierung in Bogotá die Ausgangssperre auf, die wegen der vielen Ausnahmen ohnehin immer durchlässiger geworden war. Doch mit der Normalität vor Corona hat das Leben in Kolumbien längst noch nichts zu tun.

GIZ in Kolumbien

 

Im Auftrag der Bundesregierung und der EU unterstützt die GIZ Kolumbien bei der Friedensarbeit, beim Umwelt- und Klimaschutz sowie bei nachhaltiger Wirtschafts­entwicklung. Im Friedensvertrag zwischen der Regierung und der größten Guerillagruppe FARC wird Deutschland als unterstützender Partner genannt. Die GIZ fördert mit Programmen zur Aufarbeitung der Vergangenheit den gesellschaftlichen Dialog. Auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in ländlichen Regionen stärkt das friedliche Zusammenleben, gerade in Regionen mit vielen Binnenvertriebenen oder Flüchtlingen aus Venezuela. Einkommen schaffen und dabei den Umweltschutz stärken – dieser Ansatz der „Green ­Recovery“ gehört in Kolumbien längst zur GIZ-Arbeit. Mit seinen Wäldern und seiner Artenvielfalt ist das Land ein wichtiger Partner zum Erreichen der UN-Klimaziele.

 

Kontakt: giz-kolumbien@giz.de

Grüne Hoffnung durch junge Leute

Im Schutzgebiet Parque Entrenubes kniet John Castiblanco über einem handhohen Pflänzchen. Er freut sich sichtlich über jeden Sprössling, der sich durch die ausgedörrte Erde kämpft. „Die Natur ist unglaublich widerstandsfähig“, sagt Cas-tiblanco. Zusammen mit ehrenamtlichen Helfer*innen aus den umliegenden Vierteln hat Castiblanco bereits 700 Bäume gepflanzt. 44.000 seien nötig, um den im Juni zerstörten Wald wieder aufzuforsten. Er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter führen deshalb nun am Wochenende Gruppen über das verwüstete Gelände. Es sind fast ausschließlich Jugendliche und junge Erwachsene aus den Nachbarvierteln dabei. Fast alle tragen sich in die Liste für die nächste Pflanzaktion ein. Viele von ihnen engagieren sich schon seit dem Grundschulalter für die Natur in ihrer Heimat. Sie sind inzwischen als „líderes“ Vorbilder für Umweltschutz in den Gemeinden und motivieren andere Kinder, Jugendliche und deren Eltern, mitzumachen. Obwohl dies wegen der illegalen Banden gefährlich ist. Die Liebe zur und den Respekt vor der Natur schon früh weiterzugeben, ist für John Castiblanco nur ein Teil der Aufgabe. Ein ganzheitlicher Ansatz sei nötig, um den Wald dauerhaft zu retten. „Der Staat muss das Recht auf würdigen Wohnraum garantieren und eine sichere Arbeit, sonst hört das nicht auf.“ Gerade in der Corona-Krise und darüber hinaus.

 

aus akzente 3/20

Mehr auf giz.de