Porträt

Für ein neues Narrativ

Aya Chebbi ist eine feministische Aktivistin und die erste Jugendbotschafterin der Afrikanischen Union. Gemeinsam mit jungen Menschen will sie die Beziehungen zwischen ihrem Kontinent und Europa neu denken.

Text
Christina Iglhaut
Fotos
Afresist

„Solidarity is believing that my liberation is your liberation. That my struggle is connected to your struggle. That when you win in your own village, I will also win.“ Aya Chebbi blickt direkt in die Kamera, während sie diese Sätze sagt. Sie trägt ein buntes Kopftuch, Ohrringe in der Form des afrikanischen Kontinents und spricht in einem Kurzvideo auf Twitter zu ihren 26.000 Followern. Der digitale Raum ist für die Jungdiplomatin das wichtigste Werkzeug. Ein Megafon, um ihre Stimme und die Stimme der Jugend Afrikas hörbar zu machen.

Aya Chebbi
© EdoLandwehr.com

Die 32-Jährige stammt aus Tunesien, doch lange schon begreift sie sich als Pan-Afrikanerin, als Bürgerin des Kontinents und der Welt. Während der Revolution 2010/2011 in Tunesien wurde sie für viele zur Stimme der Demokratie und erlangte als politische Bloggerin weltweit Bekanntheit. Heute ist sie die erste Sonderbeauftragte der Afrikanischen Union für Jugend und die jüngste Diplomatin im Kabinett des Kommissionsvorsitzenden der Afrikanischen Union überhaupt.

Mehr als 700 junge Menschen hatten sich beworben

Mit ihrem Engagement möchte sie den jungen Menschen Afrikas Gehör verschaffen und sich dafür einsetzen, dass ihr Potenzial auch in Europa anerkannt wird und ihre Rechte geschützt werden. „Wir sind der jüngste Kontinent der Welt und brauchen deshalb eine Vertretung, die für die Stimmen von Millionen Jugendlichen steht“, sagt sie über ihr Amt als Sonderbeauftragte. Jugendliche hatten dessen Einrichtung eingefordert, mehr als 700 Personen hatten sich um die Position beworben. „Wir müssen den Regierungen der Welt klarmachen, dass sie ohne uns, ohne die Jugend nicht mehr regieren können. Vor allem bei Themen wie digitale Transformation, Gleichberechtigung und Klimawandel wollen und müssen wir miteinbezogen werden.“

Der digitale Raum gehöre den jungen Menschen, meint Chebbi. „Wir wissen, wie wir ihn sinn- und wirkungsvoll nutzen können. Wir haben sein Potenzial von Anfang an erkannt, eigene Regeln und Strukturen geschaffen.“ Wegen der globalen Corona-Pandemie müsse jetzt aber auch die ältere Generation digitale Wege finden, um Diplomatie zu leben und Menschen zu erreichen. „Jetzt und in Zukunft reicht es nicht mehr, wenn sie ihre physische Top-Down-Konferenz im selben Format einfach in den digitalen Raum verlegen. Sie müssen unsere Sprache sprechen, unsere Tools richtig benutzen und sich anpassen.“

© Tony Templeton www.tonytempleton.com
© Privat (links), Tony Templeton (rechts)

Die „Rebellin der Familie“

Sehr jung erlebte Aya Chebbi patriarchalische Misshandlungen, Gewalt und Diskriminierung. Diese Erfahrungen hat sie in Widerstand und Energie umgewandelt. „Alles ist politisch. Wir können in unseren Meinungen und in unserem Leben nicht unpolitisch sein.“ In ihrer Familie wurde sie oft als „Rebellin“ gesehen, doch vor allem ihr Vater habe sie immer unterstützt. „Er hätte sich selbst wohl nie als Feministen bezeichnet und doch war er einer. Er hat mich bestärkt, obwohl er mit mir nicht immer einer Meinung war, hat mir Freiheiten gelassen und mich gepusht. Für ihn war klar, dass ich unabhängig von meinem Geschlecht und Alter alles erreichen kann, was ich möchte.“

Geboren wurde Aya Chebbi in Dahmani, einem Dorf an der tunesisch-algerischen Grenze. Sie besuchte acht verschiedene Schulen in acht verschiedenen Städten, weil ihr Vater in der tunesischen Armee diente und immer wieder versetzt wurde. In dieser Zeit hat Chebbi das „Mosaik“ Tunesiens kennengelernt, regionale Ungleichheiten, Rassismus und andere Ungerechtigkeiten beobachtet. Auch ihren Kontinent will sie deshalb heute ganzheitlich betrachten. „Wir müssen weg von regionalem oder nationalstaatlichem Denken, wir müssen ‚grenzenlos‘ denken und  die gemeinsamen Interessen Afrikas in der Welt vertreten.“ Nur so könne man das Narrativ über Afrika in der Welt ändern. „Europa sieht sich immer noch gerne in der Geber- und Afrika in der Nehmerrolle. Aber wir sind Partner auf Augenhöhe. Afrika hat Potenzial. Frauen und Jugendliche sind unser größtes Kapital, sie ändern schon jetzt die politische Landschaft des Kontinents, und Europa kann von uns lernen.“ Wie Afrika mit der Pandemie in einer panafrikanischen solidarischen multilateralen Aktion umgehe, könne eine wichtige Lektion für die ganze Welt sein.

Auf diesem Weg könnten auch die digitalen Medien helfen, die Teilhabe ermöglichen. In der Praxis gibt es aber innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft und innerhalb des afrikanischen Kontinents viele Unterschiede. Nur 30 Prozent der afrikanischen Bevölkerung haben einen Internetzugang. Und selbst diejenigen, die Zugang haben, müssen auf gute Verbindung hoffen – das gilt auch für Chebbi selbst. „Mehrfach konnte ich nun schon nicht an internationalen Veranstaltungen teilnehmen, weil ich Probleme mit dem Internet hatte. Dieser Zustand schließt aus, er isoliert junge Menschen in ländlichen Gegenden und wir müssen ihn schnell gemeinsam ändern und die digitale Kluft beseitigen.“

Nicht ohne generationenübergreifende Co-Leadership

„Schon jetzt sitzen junge Menschen in Parlamenten, sind Teil von Regierungen und Ministerien und werden in Zukunft immer mehr wichtige Entscheidungen im Namen unseres Kontinents treffen“, so Chebbi. „Deshalb müssen wir schon jetzt in Diplomatie und Politik eingebunden werden. Die europäische und afrikanische Jugend muss sich engagieren, austauschen, die Realitäten der anderen erleben, offen über Rassismus, Migration und Entkolonialisierung sprechen und über unsere gemeinsame Zukunft und Zusammenarbeit nachdenken, um bessere Entscheidungen zu treffen als die derzeitigen Entscheidungsträgerinnen und -träger.“ Dies ist der Grundgedanke des AU-EU-Jugendgipfels, der im Vorfeld des für Oktober 2020 geplanten AU-EU-Gipfels stattfinden sollte. Beide mussten wegen der Pandemie verschoben werden. Europäische und afrikanische Teilnehmende wollen bei der Konferenz gemeinsam einen Fahrplan entwerfen, der anschließend den Entscheidungsträgerinnen und -trägern vorgelegt werden soll, um Unterstützung einzufordern. „Wir können unser Narrativ selbst neu schreiben“, sagt Chebbi.

Dass es ihr Amt überhaupt gibt und dass der Auswahlprozess transparent und offen stattfand, ist für sie ein erstes Indiz für dieses neue Narrativ: „Wir können darauf sehr stolz sein. Wenn man sonst über Afrika spricht, spricht man oft von einem korrupten und intransparenten System.“ An ihrem Amt sehe man, dass das nur ein Teil der Wirklichkeit sei.

November 2020