Biodiversität in Peru

Baumsaft bringt Wohlstand

Im peruanischen Amazonasgebiet verwalten Staat und Bevölkerung gemeinsam ein Naturschutzgebiet.

Text und Fotos
Thomas Wagner

Armando del Arca setzt sein Messer an. Mit kurzen, kraftvollen Bewegungen ritzt er eine Rinne in die hellgraue Rinde eines Kautschukbaums. Eine weiße Flüssigkeit, der Latex, quillt aus dem Inneren, fließt den frischen Schnitt hinunter und tropft zähflüssig in einen Plastikbecher am Fuße des 30 Meter hohen Baums.

Armando del Arca
Armando del Arca

Der 85-Jährige vom Volk der Asháninka kennt den Urwald rund um die Gebirgskette El Sira wie kaum ein Zweiter. Sein Haar ist schlohweiß und die Jahre haben Furchen in seine bronzefarbene Haut gegraben. Er ist hier aufgewachsen, im Herzen Perus, wo der Amazonas auf die bis zu 2.400 Meter hohen Ausläufer der östlichen Andenkette trifft. El Sira ist eines von zehn kommunalen Reservaten in Peru. Das Besondere an diesen Schutzgebieten: Die Naturschutzbehörde verwaltet sie gemeinsam mit der indigenen, der ursprünglichen Bevölkerung.

Schonender Umgang mit dem Wald

Die Idee dahinter: Während die Anwohner den Wald schützen, investiert der Staat in Initiativen, die ihren Lebensstandard verbessern. Del Arca steht voll hinter dem Konzept. 2001 rief er eine Genossenschaft ins Leben, in der sich mittlerweile mehr als 500 indigene Kautschukbauern zusammengeschlossen haben. „Wir fällen den Baum nicht, wir zapfen seinen Latex. So erhalten wir die Biodiversität.“

Del Arca verstaut das Messer in einer Umhängetasche und schnappt seinen Eimer. Trotz seines hohen Alters ist er in ausgezeichneter Form. In drei Stunden wird er wieder vorbeikommen, um den Inhalt des Bechers einzusammeln. Nun eilt er zum nächsten Baum. Je schneller er arbeitet, umso mehr Milchsaft hat er am Ende der siebenstündigen Schicht zusammen.

Heute ist er gemeinsam mit Stephan Amend von der GIZ unterwegs. Die deutschen Experten unterstützen im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit die Naturschutzbehörde und die indigene Bevölkerung dabei, das El-Sira-Reservat und vier weitere Schutzgebiete zu verwalten. Dazu gehört auch die Organisation von Weiterbildungen und die Anschaffung von technischer Ausrüstung wie zum Beispiel GPS-Geräten. Das Projekt ist Teil der Internationalen Klimaschutzinitiative des Umweltministeriums.

Einkommen für arme Gemeinden

Der Amazonasurwald ist die grüne Lunge des Planeten. Dass Peru ihn erhält, kommt auch dem Rest der Welt zugute, sagt Amend. Denn jeder Baum trägt dazu bei, den Klimawandel abzufedern, indem er Kohlendioxid bindet. Werden Bäume gefällt, wird das Treibhausgas freigesetzt. Fast die Hälfte der Kohlendioxidemissionen Perus werden durch Abholzung verursacht.

Im Naturschutzgebiet El Sira
Im Naturschutzgebiet El Sira

In direkter Nachbarschaft zum Schutzgebiet leben 69 indigene Gemeinden. Viele ihrer Mitglieder wohnen wie Generationen vor ihnen in Pfahlhäusern aus Holz, ohne Wände. Ursprünglich wegen der besseren Ventilation auf diese luftige Art gebaut, können die Häuser nun die Armut nicht verbergen. Die Menschen ernähren sich von dem, was ihre Felder liefern. Zusätzliche Einkommen, um etwa ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, erzielten sie früher kaum. Das hat sich geändert.

Kautschuk – Rohstoff und Hoffnungsträger

Die GIZ beriet die Dorfgemeinschaften dabei, Pläne für die Verwaltung und Pflege der Wälder zu erstellen. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass die Anwohner in der Pufferzone des Schutzgebiets Pflanzen anbauen dürfen. Staatliche Mitarbeiter kontrollieren das. Dadurch können inzwischen 42 indigene Gemeinden unter anderem Kakao, das Heilmittel Copaiba und den Farbstoff Annatto produzieren und vermarkten, statt illegal Holz zu schlagen. Mehr als 124.000 Hektar Wald wurden so erhalten und werden heute nachhaltig genutzt.

Gemeindevorsteher Armando del Arca
Gemeindevorsteher Armando del Arca

Doch der wichtigste nachwachsende Rohstoff der Region ist und bleibt der Kautschuk. 20 Gemeinden entschieden sich in ihren Managementplänen für die Gewinnung von Latex. „Baumtränen“ nannten ihn die Urvölker Süd- und Mittelamerikas früher und stellten daraus wasserdichte Gefäße und Kleidungsstücke her.

Die westliche Welt wurde erst so richtig auf den Milchsaft aufmerksam, als der US-amerikanische Chemiker Charles Goodyear um 1840 ein Verfahren erfand, um ihn in elastischen Gummi zu verwandeln. Der wachsende Bedarf der Autoindustrie löste im Amazonas einen wahren Kautschukboom aus. Mit schlimmen Folgen für die Ureinwohner: Sie wurden wie Sklaven zum Kautschukzapfen gezwungen. Die Einführung von synthetischem Gummi bereitete dem ein Ende. Als Bestandteil zahlreicher Produkte vom Autoreifen bis zum Kondom bleibt der Naturkautschuk aber bis heute gefragt.

Neue Latex-Produkte, höhere Einnahmen

Vor einigen Stunden hat es geregnet. Del Arca fühlt mit seiner Hand, ob die Haut des Kautschukbaums bereits trocken ist. „Dringt Feuchte in den Baum, stirbt er.“ Dann schneidet er zwei Millimeter tief in die Rinde, auf keinen Fall tiefer, erklärt er, denn zu heftige Schnitte verletzen den Baum. Viele Bauern haben sich dieses Wissen erst wieder aneignen müssen, auch in von der GIZ organisierten Fortbildungen.

Del Arca hat seine Schicht beendet. Mit einem Plastikeimer voller Latex läuft er zurück ins Camp seiner Kooperative. Bei 250 Kautschukbäumen kommt er pro Schicht auf eine Ausbeute von etwa acht Kilogramm. Rund drei Tonnen Latex monatlich verkauft die Genossenschaft in der Trockenzeit. Latex ist gefragt – doch ein Selbstläufer ist er nicht.

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Asiatische Nationen wie Thailand und Malaysia haben Peru und Brasilien als wichtigste Herstellerländer abgelöst. Das Angebot aus Fernost hat in den vergangenen Jahren die Preise fallen lassen. Momentan zahlten ihnen die Abnehmer in der Hauptstadt Lima sechs Soles pro Kilogramm, sagt del Arca, umgerechnet 1,60 Euro. Um seine Familie über die Runden zu bringen, braucht er monatlich etwa 900 Soles – beim jetzigen Preis entspricht das knapp 20 Tagesschichten im Monat. Womit er seine Situation verbessern will: „Mehr Latex und neue Produkte, mit denen wir Mehrwert erzeugen und höhere Preise erzielen.“ Das Projekt hat in den Jahren 2013 bis 2016 bereits das Einkommen von 410 Familien in der Pufferzone von El Sira um umgerechnet jeweils rund 200 US-Dollar pro Jahr gesteigert.

Trendmaterial pflanzliches Leder

Im Büro der Genossenschaft zeigt er ein solches neues Produkt. Dafür spannt er ein weißes Tuch aus Baumwolle auf einen etwa einen Quadratmeter großen Holzrahmen. Dann verrührt er den Latex mit weiteren Zutaten und trägt die Mischung mit einem Pinsel auf das Gewebe auf. Pflanzliches Leder nennt sich das neue Trendmaterial, das wasserabweisend ist. Boutiquen in aller Welt bieten bereits Kleidung daraus an. Nun wollen auch die Bauern der Genossenschaft diesen Markt erobern. Del Arca zeigt Schuhe und Taschen, die sie entwickelt haben. Eine hiesige Schönheitskönigin haben sie mit Krone und Kleid ausgestattet. Etliche Produkte stellen sie derzeit auf einer Messe in Lima aus.

Ehrgeizige Zukunftspläne

Estip Basualdo kann mit Zahlen und Pflanzen gleichermaßen gut umgehen. Wohl deswegen wurde der gedrungene Mann zum Chef der Kooperative gewählt. Basualdo hat in die Baumschule der Genossenschaft eingeladen. Er schneidet ein rechteckiges Stück Rinde aus einem heranwachsenden Kautschukbaum. Dann geht er zu einem zweiten Stamm, nimmt dort einen etwa gleich großen Ausschnitt aus der Borke heraus und setzt das Rindenstück ein. Aus der Wunde wird das genetische Ebenbild des ersten Baums sprießen. Veredelung nennen die Landwirte dieses traditionelle Verfahren zum Klonen von Pflanzen.

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Das nicht einmal fingergroße Stück Rinde ist die wohl wichtigste Zukunftsinvestition der Kautschukbauern von El Sira. Es trägt die genetische Information eines besonders ertragreichen und resistenten Baums in sich. 50.000 genetisch identische Bäume haben die Mitglieder der Kooperative bisher gepflanzt, auf Land, das in ihren Gemeinden brach lag.

In fünf Jahren werden sie dank dieser Plantagen monatlich 50 Tonnen Latex gewinnen, sagt Basualdo. Mit dieser Menge könnten sie dann sogar eine eigene Fabrik beliefern. Und Schuhe in ganz anderen Mengen herstellen. Es klingt utopisch. Doch del Arca, Basualdo und ihre Kollegen sind ehrgeizig. „Peru muss heute 99 Prozent seines Bedarfs an Kautschuk über Importe abdecken“, sagt Basualdo. „Das heißt, die Nachfrage ist da.“

April 2017