Kambodscha

Zurück in die Zukunft

In Kambodscha haben Studierende eine App entwickelt, die an Schauplätze der Schreckensherrschaft der Roten Khmer führt und die Geschichten von Opfern und Tätern erzählt. Damit die nächste Generation nicht vergisst.

Text
Johannes Tran
Fotos
Lim Sokchanlina

Der Weg in die Vergangenheit führt Sophiline Cheam Shapiro durch einen Torbogen, vorbei an lehmroten Häusern und der Skulptur eines lächelnden Mannes mit einem Zupfinstrument im Arm. Haushohe Laubbäume werfen auf dem Campus der Royal University of Fine Arts in Phnom Penh ihre Schatten, Grüppchen von Studierenden in weinroten Uniformen sitzen in Pavillons beisammen. „Dieser Ort erinnert mich an harte Zeiten“, sagt Sophiline.

Unter den Roten Khmer war Tanz verboten. Die Choreographin Sophiline Cheam Shapiro hat mit anderen Künstler*innen diese Ausdrucksform wiederbelebt und jungen Menschen von den entsetzlichen Jahren unter dem Regime berichtet.
Unter den Roten Khmer war Tanz verboten. Die Choreographin Sophiline Cheam Shapiro hat mit anderen Künstler*innen diese Ausdrucksform wiederbelebt und jungen Menschen von den entsetzlichen Jahren unter dem Regime berichtet.

Die 52-Jährige ist eine elegante Frau. Sie strahlt eine Mischung aus Anmut und Autorität aus. Sophiline nimmt auf einer Steintreppe Platz und beginnt zu erzählen: Wie die Roten Khmer ihre Familie nach der Machtübernahme im Jahr 1975 aus der Stadt vertrieben und zur Feldarbeit gezwungen haben. Wie ihr Vater an Hunger und Krankheit starb und kurz darauf ihr Bruder. Sie erzählt von ihrer Mutter, die vom Tod ihres Sohnes hört und doch nicht weinen kann. Und davon, wie sie nach dem Ende der vierjährigen Schreckensherrschaft nach Phnom Penh zurückkehrt, um an genau diesem Ort, der Kunstschule, die traditionellen Techniken des Tanzens und Musizierens, der Malerei und Schauspielerei zu studieren. „Meine Lehrer waren unverwüstlich. Sie haben Tag und Nacht gearbeitet, um unsere Künste wiederzubeleben“, sagt Sophiline.

Traumata aufarbeiten

Die Roten Khmer hatten die Kunstschule wie alle anderen Bildungs-, Religions- und Kultureinrichtungen geschlossen. Künstler*innen, Intellektuelle und Städter galten als Feinde. Sie wurden deportiert, viele von ihnen ermordet. Schätzungen zufolge fielen etwa zwei Millionen Menschen, rund ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung, dem Terrorregime und ihrem Anführer Pol Pot zum Opfer. Als die Kunstschule nach dem Sturz der Roten Khmer wiedereröffnet wird, ist Sophiline unter den ersten Absolvent*innen. Sie brennt darauf, das Land wachzurütteln und die Traumata aufzuarbeiten – mit der Ausdruckskraft des Tanzes. Bis heute thematisiert sie als Choreographin in ihren Inszenierungen die Schrecken jener Zeit. Und sie redet mit jungen Menschen über ihre eigene Lebensgeschichte – immer und immer wieder.

Sophilines Botschaft, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, weckte das Interesse von Studierenden der Medien- und Kommunikationswissenschaften in Phnom Penh. Sie haben gemeinsam mit dem Zivilen Friedensdienst, unterstützt von der GIZ, an einem einzigartige Projekt gearbeitet. Mit einer App erzählen sie Geschichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in ganz Kambodscha. Die Studierenden wühlten sich in Archiven durch historische Dokumente. Sie fuhren quer durchs Land, in die Städte und die entlegenen Regionen. Sie befragten Überlebende des Regimes, Opfer und Täter. Dann produzierten sie Audio- und Video­dokumentationen, erstellten Fotogalerien und Artikel in Englisch und Khmer. Die App wurde Anfang 2019 veröffentlicht und trägt den Namen „Mapping Memories Cambodia“. Auch Sophilines Geschichte ist Teil des Projekts.

„So viele unerzählte Geschichten“

Eine Studentin, die an der App mitgearbeitet hat, sitzt an einem Frühlingsmorgen auf einer Bank vor dem Fachbereich für Medien  an der Königlichen Universität von Phnom Penh. Ringsum trudeln junge Menschen auf Mopeds und Fahrrädern an der Universität ein.  „Erst war ich nicht so glücklich mit dem Projekt. Ich habe mich gefragt: Wie sollen wir überhaupt einen neuen, interessanten Zugang zu der Zeit der Roten Khmer finden?“, sagt Socheata Seng. „Aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr hatte ich das Gefühl: Es gibt so viele unerzählte Geschichten.“

Für die App hat sie zwei Beiträge produziert. In einer Videodokumentation illustriert Socheata die Funktionen der einzelnen Häuser rund um das Tuol-Sleng-Genozidmuseum, ein ehemaliges Gefängnis der Roten Khmer, in dem Tausende Menschen gefoltert wurden. Außerdem hat sie einen Mann interviewt, der die Machtergreifung durch das Terrorregime als Kind aus der französischen Botschaft heraus erlebte. Während er mit seiner Mutter das Land verlassen darf, muss sein Vater in Kambodscha bleiben und stirbt dort. „Das prägt ihn bis zum heutigen Tag“, sagt Socheata über ihren Protagonisten.

Mapping Memories Cambodia
Mapping Memories Cambodia

Es sind eindringliche Geschichten, die „Mapping Memories Cambodia“ (MMC) erzählt. Wer die App öffnet, sieht zunächst eine Landkarte. Der eigene Standort wird darauf mit einem blauen Punkt dargestellt. Gelbe Stecknadeln markieren Orte in der aktuellen Umgebung, dahinter verbergen sich die Beiträge, die Socheata und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen erarbeitet haben. Da sind prominente Schauplätze wie der zentrale Markt in Phnom Penh, den die Roten Khmer in ein Vorratslager und Stallgebäude umfunktionierten. Die App beleuchtet aber auch unscheinbare Orte, etwa einen heruntergekommenen Gebäudekomplex im Süden der Stadt, in dem vertriebene Künstlerinnen und Künstler nach dem Fall des Terrorregimes Zuflucht fanden. Das ist das Innovative des Projekts: Es möchte Nutzer*innen anhand heute noch sichtbarer Orte mit der Vergangenheit konfrontieren und dazu animieren, sich selbst ein Bild von den Schauplätzen zu machen.

Durch die digitale Gestaltung wollen die Studierenden mit MMC vor allem junge Menschen erreichen. Anders als in Deutschland weiß die junge Generation in Kambodscha kaum etwas über die grausame Geschichte des eigenen Landes. Eine Studie der University of California, Berkeley, kam 2009 zu dem Schluss, dass acht von zehn Kambodschaner*innen, die nach der Zeit der Roten Khmer geboren wurden, kein oder nur sehr wenig Wissen über das Regime haben. Diese junge Generation ist dabei, den Zugang zur Geschichte ihres Landes zu verlieren. Erst seit zehn Jahren sind die Roten Khmer landesweit Bestandteil des Schulcurriculums. Aber auch in den Familien wird kaum über die Schreckensherrschaft gesprochen. Zu tief sind die Wunden, zu groß ist die Scham.

Eine Brücke zwischen den Generationen

„Als ich klein war, dachte ich, die Roten Khmer sind eine Art Märchen“, sagt Socheata, die Studentin. „Meine Tante hat darüber Scherze gemacht, so als ob es nichts Schlimmes, nichts Schmerzhaftes wäre. Aber jetzt verspüre ich Mitgefühl. Ich bin traurig, was meine Familie in der Vergangenheit durchmachen musste. Manchmal weine ich, weil sie so sehr gelitten haben.“ Das Projekt bringt Socheata dazu, sich erstmals intensiv mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Sie erfährt bei der Recherche, was ihre Familie unter den Roten Khmer erlebte. In dem radikalen System, in dem Geld und Eigentum verboten und Stadtbewohner in Gewaltmärschen aufs Land getrieben wurden, hungerten die Menschen – viele starben daran.

Seit sie die App mitgestaltet hat, läuft die Studentin mit anderen Augen durch ihre Stadt. Sieht sie ein markantes Gebäude, stellt sie sich und anderen Fragen. In welchem Jahr wurde es errichtet? Wie wurde es unter den Roten Khmer genutzt? Was ist mit den Menschen darin geschehen? „Ich spüre in mir die Verantwortung, Geschichte zu dokumentieren“, sagt sie. „Wir sind wie eine Brücke zwischen der alten und jungen Generation. Und ich will nicht, dass es heißt: Ihr habt euch nicht um die Geschichte gekümmert.“

Wenn Sophiline, die Künstlerin und Zeitzeugin, davon hört, fühlt sie sich in ihrer Arbeit bestätigt. Unter einem säulengestützten Dach der Kunstschule, einige Meter von ihr entfernt, studiert eine Gruppe junger Männer und Frauen den traditionellen Khmer-Tanz ein. Sie tragen Röcke und bunte Tücher. Unter den Anweisungen eines Lehrers bewegen sie ihre Hände im Rhythmus eines Sprechchors. Sophiline blickt zu den Studentinnen und Studenten, ein Widerschein ihrer eigenen Vergangenheit. „Es ist wichtig, dass es dieses Projekt gibt. Wir Alten müssen mehr über die Vergangenheit erzählen.“ Sie hält inne. „Aber man muss auch vorwärtsgehen. Stärke aus der Vergangenheit ziehen. Du musst deine Energie darauf verwenden, etwas Neues und Produktives zu schaffen.“ In zwei Tagen wird ihr Ensemble den nächsten Auftritt haben. Das Thema: Lassen sich Kreisläufe von Rache und Gewalt überwinden? Eine Frage, die sich viele stellen werden, die mit „Mapping Memories Cambodia“ in die Vergangenheit Kambodschas eintauchen.

KAMBODSCHA

 

Hauptstadt: Phnom Penh / Bevölkerung: 16 Millionen / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 1.380 US-Dollar (1) / Wirtschaftswachstum: 7,5 Prozent (2) / Rang im Human Development Index: 146

Der Zivile Friedensdienst, unterstützt von der GIZ im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums, fördert in Kambodscha die Aufarbeitung der Vergangenheit im Umfeld des Rote-Khmer-Tribunals. Dazu gehört die kartenbasierte Smartphone-App „Mapping Memories Cambodia“: www.mappingmemoriescambodia.com
Kontakt: Julia Ilse, julia.ilse@giz.de

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