Erneuerbare Energien

Unter Strom in Nicaragua

Ein Wasserkraftwerk versorgt ein Dorf im Norden Nicaragua erstmals mit Elektrizität – und verändert damit das Leben der Bevölkerung völlig.

Text
Klaus Ehringfeld
Fotos
Esteban Felix

Die Menschen in Ocote Tuma teilen ihr Leben in zwei Zeitrechnungen. In die Phase des Dunkels und die des Lichts, die Etappe der Eintönigkeit und die der Möglichkeiten. Eben in die Zeit vor und die nach der „Micro-Turbina“, der „kleinen Turbine“, wie sie das Kleinwasserkraftwerk nennen. „Es sind zwei verschiedene Leben“, sagt Freddy Orozco. Er ist der Vorsitzende des Komitees, das in Ocote Tuma das Kraftwerk verwaltet, mit dem sich der Alltag der Menschen so grundlegend verändert hat.

Es war vor acht Jahren, als das Licht in den kleinen Weiler im Norden Nicaraguas kam. Damals lebten in dem Dorf, eingebettet in Tropenwälder und grüne Hügel, 17 Familien. Heute sind es 70, Tendenz steigend. „Wir haben ein Bevölkerungswachstum von 25 Prozent im Jahr“, sagt Orozco.

Die „Micro-Turbina“ von Ocote Tuma (rechts) bringt enormen Aufschwung. Ein Wasserfall oberhalb des Ortes ist ihre Kraftquelle (links).Victoria Jarquín wurde dank Strom von einer Hausangestellten zur Unternehmerin. Von nah und fern kommen Menschen zu der neuen Gesundheitsstation. Bildergalerie: Die „Micro-Turbina“ von Ocote Tuma bringt enormen Aufschwung.

Dabei liegt Ocote Tuma nicht gerade am Nabel der Welt. Etwa sechs Stunden sind es mit dem Auto bis in die Hauptstadt Managua, davon drei über abenteuerlich holprige und kurvige Schotterpisten. Der Weg führt vorbei an einfachen Holzhütten, Mangobäumen und kleinen Kakao- und Bananenplantagen. Nicaragua ist nach Haiti das zweitärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent. Weit mehr als eine Million Menschen hier haben keinen Strom.

So war es auch in Ocote Tuma, bis im Jahr 2007 die Gemeinde und die Zentralregierung gemeinsam ein kleines Kraftwerk bauten. Dabei unterstützte die GIZ sie im Auftrag der Generaldirektion für internationale Zusammenarbeit des niederländischen Außenministeriums. Oberhalb des Ortes stürzt idyllisch ein Wasserfall in die Tiefe. Also stauten die Bewohner das Wasser in einem Becken, legten eine Wasserleitung ins Dorf und schlossen eine Wasserturbine an. 40.000 Dollar kostete das Wasserkraftwerk.

Teil der internationalen Initiative EnDev

Das Projekt ist Teil einer internationalen Initiative, die zum Ziel hat, die abgelegenen Gemeinden Lateinamerikas, Afrikas und Asiens mit nachhaltigem Strom zu versorgen. Finanziert wird sie vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gemeinsam mit der niederländischen Generaldirektion und weiteren Gebern aus Norwegen, Australien, Großbritannien und der Schweiz. Sieben Wasserkraftwerke sind allein in Nicaragua gebaut worden. Aber keines ist so erfolgreich wie das in Ocote Tuma.

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Denn der Ort hat sich seitdem neu erfunden. Täglich ziehen Menschen aus der Umgebung zu, weil auch sie von den Segnungen des Stroms profitieren wollen. Den Bewohnern eröffnen sich plötzlich Chancen, die sie vorher nicht hatten.

Davon kann Victoria Jarquín erzählen. Die Frau mit der fröhlichen Ausstrahlung ist dank des Stroms von einer Hausangestellten zur Unternehmerin geworden. Ihr gehört eine „Pulpería“, eine Art Gemischtwarenladen. Das Geschäft hat keinen Namen, über der Tür steht schlicht: „Bienvenido“, Willkommen. An einem Dienstagmorgen hat Jarquín gut zu tun. Eine alte Dame kauft ein kühles Getränk, ein Junge verlangt nach einem Kilo Malanga, einem typischen Wurzelgemüse der Region. Jarquín wiegt ab, steckt dem Kind das Gemüse in eine Tüte. „Neun Córdobas“, verlangt sie, rund 30 Eurocent.

Als sie vom Stromanschluss hörte, kehrte sie zurück

Jarquíns Laden hat vom Schrubber über Blusen bis zum Fleischfilet fast alles im Angebot. „Erfrischungsgetränke und Hühnchen gehen am besten“, sagt sie. Und beides bewahrt sie im Kühler auf, den es nur gibt, weil das Geschäft nun Strom hat. Jarquín wurde vor 35 Jahren auf einer Farm nahe Ocote Tuma geboren. Die Menschen standen bei Sonnenaufgang auf und gingen bei Sonnenuntergang zu Bett. Jarquín suchte daher schon als Teenager das Weite, ging in die Kreisstadt Waslala und nahm einen Job als Hausangestellte an. Zwölf Jahre lang war sie fort. Aber als sie von dem Stromanschluss ihres Dorfes hörte, kehrte sie sofort zurück: „So eine schöne Gelegenheit musste ich einfach nutzen“, erzählt sie. Der Vater besorgte bei der Bank einen Kleinkredit, davon wurden das Haus und die ersten Waren angeschafft. Das ist jetzt vier Jahre her.

Als Hausangestellte verdiente sie umgerechnet 100 Euro, heute hat sie am Ende des Monats rund dreimal so viel in der Kasse. Manchmal sogar noch mehr. „Und ich bin meine eigene Herrin, bestimme, was ich machen kann. Es ist wunderbar“, sagt sie und lacht ein ansteckendes Lachen. „Ich bin so stolz auf mein Geschäft.“

Über die Strompreise entscheidet das Kraftwerkskomitee

Geschichten von neuen Chancen und Verbesserungen wie die von Jarquín findet man in Ocote Tuma an jeder Ecke. Der Schuldirektor kann sie erzählen, der jetzt dank des Stroms auch abends unterrichten lässt, ebenso der Tischler, der das Dorf mit Betten und die Schule mit Pulten versorgen kann, weil er leistungsfähige strombetriebene Werkzeuge nutzt. Besonders stolz sind sie in Ocote Tuma auf ihre Gesundheitsstation. Die gibt es nur dank der Elektrizität. Ein Arzt und eine Schwester versorgen jeden Tag 80 Patienten, die oft aus der Umgebung von weither zu Fuß oder auf dem Pferd zur Sprechstunde kommen. „Wie entscheidend der Anschluss an Energie für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung einer Gemeinschaft ist, kann man in Ocote Tuma exemplarisch sehen“, sagt Javier Gutiérrez von der GIZ in Nicaragua.

Alle Themen rund um die „Micro-Turbina“ erörtert das Kraftwerkskomitee des Dorfes. Sechs Männer und drei Frauen beraten in dem Gremium Fragen wie die Höhe der Strompreise und wer wie viele Haushaltsgeräte und Fernseher anschließen darf. Der einmalige Anschluss ans Stromnetz kostet 3.500 Córdoba (rund 117 Euro), der Basiskonsum dann 2,65 Euro im Monat. Darin sind vier Sparbirnen und der Strom für einen Fernseher inbegriffen. Aber das Komitee berät auch, wie hoch die Strafen sind, wenn die Regeln verletzt werden. „Schließlich ist der Strom knapp und begehrt“, sagt Orozco, der Vorsitzende.

Energising Development (EnDev)

Die Initiative Energising Development schafft Zugang zu erneuerbarer Energie für Menschen, die ohne Strom leben. Seit 2005 hat sie 13,9 Millionen Menschen in 24 Ländern erreicht. Zu den vielen positiven Effekten gehören Verbesserungen bei der Gesundheit, etwa durch den Austausch von Kohleöfen. Neben Privathaushalten erhielten 16.000 soziale Einrichtungen Strom, darunter viele Schulen.

Gerade mal 13 Kilowattstunden Energie produziert die Turbine. Zum Vergleich: Mit einer Kilowattstunde kann man nicht einmal eine volle Stunde staubsaugen. Daher haben die Dorfbewohner auf Vorschlag des Vorstands beschlossen, dass Kühlschränke und Tiefkühltruhen jeden Tag von 17 bis 20 Uhr abgeschaltet werden müssen. Es ist die Zeit des höchsten Konsums, wenn die Dämmerung einsetzt, die Menschen von der Arbeit kommen, sich die Telenovelas und Nachrichten im Fernsehen anschauen. „Dann müssen wir sparen“, insistiert Komiteechef Orozco. Aber viele im Dorf murren. Schließlich verderben Lebensmittel wie Milch und Fleisch bei den tropischen Temperaturen ohne Kühlung schnell.

Die Stromversorgung ausbauen

Für Macial Borges und seine kleine Familie ist das kein Problem. „Vier Glühbirnen und ein Radio“, das ist alles, was er hat, und das genüge ihm. „Ich zahle das Minimum“, sagt Borges, ein muskulöser Bauarbeiter von 35 Jahren in blütenweißem Hemd. Borges bewohnt mit seiner Frau und dem kleinen Sohn eine geräumige, aber karg eingerichtete Holzhütte am Rande von Ocote Tuma. Zu ihren Füßen wuseln frisch geschlüpfte Küken.

Das Zentrum des Hauses bildet das kleine Transistorradio. Es steht gleich gegenüber dem Eingang auf einem Tisch, der einem Altar gleicht. Darüber thronen die Bilder der Familie, ein Spiegel und die blau-weiße Fahne Nicaraguas. „Unser Sechsjähriger kann nun auch bei Dunkelheit Hausaufgaben machen“, sagt Borges, „und ich werde für meine Frau eine elektrische Nähmaschine kaufen.“ So will sich das Paar etwas dazuverdienen.

Derweil grübeln Freddy Orozco und das Komitee darüber nach, wie sie die Stromversorgung ausbauen oder optimieren können, damit sie stabil und für alle in einem ausreichenden Maß erhalten bleibt. Den anhaltenden Zuzug neuer Familien wollen sie nicht einschränken. Eine stärkere oder zweite Turbine wäre möglich oder weiter gehende Einschränkungen beim Verbrauch. Vorerst aber soll die Kapazität des Kraftwerkes mit der technischen Hilfe einer nicaraguanischen Nichtregierungsorganisation, die sich auf erneuerbare Energien spezialisiert hat, erhöht werden. „Ein paar Kilowatt kann man noch aus ihr herauskitzeln“, meint Orozco. Eines jedenfalls sei klar: Auf den Strom wieder zu verzichten, kommt in Ocote Tuma für niemanden infrage.

Ansprechpartner: Klaus Hornberger klaus.hornberger@giz.de

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DIE KRAFT DER ERNEUERBAREN

Projekt: Energising Development (EnDev)
Land: Nicaragua
Auftraggeber: Die Mitglieder der Energiepartnerschaft EnDev
Partner: Nicaraguanisches Ministerium für Energie und Bergbau, ländliche Gemeinden
Laufzeit: 2006 bis 2018

EnDev Nicaragua wird finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Generaldirektion für internationale Zusammenarbeit des niederländischen Außenministeriums, dem norwegischen Außenministerium, dem australischen Außen- und Handelsministerium, dem britischen Ministerium für internationale Entwicklung und der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Das Programm unterstützt mehr als eine Million Menschen ohne Zugang zu einer modernen Stromversorgung dabei, erneuerbare Quellen zu erschließen. Durch Photovoltaikanlagen und Kleinwasserkraftwerke bringt es Elektrizität in Privathaushalte, Schulen, Gesundheitszentren und Betriebe. Bis Ende 2014 wurden in Nicaragua 2.700 Solarsysteme installiert, von denen 15.660 Menschen profitieren. Zehn Wasserkraftanlagen versorgen 5.519 Bewohner ländlicher Gemeinden. 245 Bildungs- und soziale Einrichtungen haben erstmals Strom.
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