Deutschlands Verantwortung

„Strategischer werden“

Amel Saidane aus Tunesien und Victor Andrusiv aus der Ukraine waren zwei von rund 150 Befragten der GIZ-Studie zum Deutschlandbild. Im Doppel­interview diskutieren sie darüber, was Deutschland für sie bedeutet.

Frau Saidane, Herr Andrusiv, was verbinden Sie mit dem Begriff Verantwortung, wenn Sie an Deutschland denken?
Amel Saidane: Ich denke dabei an Begriffe wie Konsequenz, Führung in Europa und Werte wie staatsbürgerliche Verantwortung. Denn es geht Deutschland nie nur um sich selbst, sondern um die Gesellschaft insgesamt. Deutschland vermittelt nicht den Eindruck eines Landes, das eine versteckte Agenda verfolgt und andere in seinem Sinne manipuliert, sondern steht für Transparenz und Klarheit in der Herangehensweise und Kommunikation.

Victor Andrusiv: Betrachtet man die Verantwortung Deutschlands, insbesondere im Hinblick auf die Ukraine, so sind meiner Ansicht nach zwei Faktoren wichtig: Zuverlässigkeit und – wie Amel schon sagte – Konsequenz. Zuverlässigkeit bedeutet für mich, dass die Menschen großes Vertrauen in das haben, was von deutschen Entscheidungsträgern gesagt wird. Und Konsequenz bedeutet, dass das, was gesagt wird, auch für einen längeren Zeitraum gilt, und zwar unabhängig von innenpolitischen Veränderungen.

Wo handelt Deutschland in internationalen Angelegenheiten verantwortungsvoll und wo sollte sich das Land stärker engagieren?
Saidane: Deutschland handelt verantwortungsbewusst bei Themen wie Einwanderung und Umwelt oder beim Schutz personenbezogener Daten. Auch beispielsweise im so heiklen palästinensisch-israelischen Konflikt macht Deutschland sich weiter für Friedensverhandlungen stark. Deutschland sollte jedoch darüber nachdenken, wie es seine Führungsposition in Europa künftig nutzen kann, um den Zusammenhalt in Europa zu stärken.

Andrusiv: Aus ukrainischer Sicht handelt Deutschland sehr verantwortungsvoll, wenn es um unsere Souveränität, die Menschenrechte, demokratische Freiheiten sowie die finanzielle und technische Unterstützung von Reformen geht. Allerdings sind die im Rahmen der internationalen Unterstützung gewählten Strategien aus meiner Sicht etwas veraltet und nicht immer wirkungsvoll genug. So unterstützt die GIZ viele Städte bereits seit Jahren mit zahlreichen Infrastruktur- und Beratungsleistungen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sie sich daran gewöhnen. Man könnte den Aufbau einer Hochschule für kommunale Fach- und Führungskräfte unterstützen, damit im Land selbst Experten ausgebildet werden. Dadurch würde Deutschland einen größeren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten. Meiner Ansicht nach sollte die Strategie überdacht und angepasst werden.

„Deutschland sollte darüber nachdenken, wie es seine Führungsposition nutzen kann, um den Zusammenhalt in Europa zu stärken.“

  Amel Saidane 

In der Vergangenheit hieß es manchmal, Deutschland sei wirtschaftlich ein Riese, aber politisch ein Zwerg. Würden Sie sagen, dass diese Aussage noch zutrifft?
Andrusiv: Ich würde sagen, dass diese Aussage eine Entwicklung beschreibt, die erst in den letzten Jahren eingetreten ist. Die aktive Rolle Deutschlands ist in der unstrukturierten internationalen Herangehensweise der EU etwas untergegangen. In der Nachbarschaft der EU gibt es immer mehr unge­löste Konflikte, was nicht zuletzt auf die Schwäche der EU-Kommission zurückzuführen ist. Da sind der nun schon sieben Jahre andauernde Konflikt in Syrien oder der seit vier Jahren schwelende Konflikt in der Ukraine, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Saidane: Ich denke, dass diese Aussage bis zu einem gewissen Grad zutrifft. Deutschland hat in der Vergangenheit – vermutlich aus historischen Gründen – in der internationalen Politik Zurückhaltung geübt. Auf dieser Grundlage hat es dann begonnen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Dabei hat es sich gegenüber anderen Ländern stets offen gezeigt und sie geachtet. Meiner Meinung nach sollte Deutschland jedoch ganz bewusst eine wirkungsvolle Kommunikationsstrategie entwickeln, um sowohl wirtschaftlich als auch politisch als Führungsmacht wahrgenommen zu werden.

Manchmal werden Forderungen laut, dass Deutschland zusammen mit seinen europäischen Partnern ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten, Russland und China bilden und die westlichen Werte verteidigen sollte. Glauben Sie, dass die EU dazu in der Lage ist?
Andrusiv: Die wichtigste Aufgabe der EU besteht momentan darin, sich selbst und die angrenzenden Regionen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die wachsende Bedrohung durch Rechtspopulisten in Polen und Ungarn oder Linkspopulisten in Italien sowie der Brexit – all diese Entwicklungen können in eine große Krise Europas münden. Das erfordert neue Herangehensweisen und Lösungen. Es genügt nicht, wenn die EU erklärt, dass sie mit einer Entwicklung nicht einverstanden ist. Sie muss aktiv gegen Bedrohungen vorgehen. Wenn die EU in diesem Punkt versagt, wird sie den USA oder China nie auf Augenhöhe begegnen.

Saidane: Ich bin durchaus der Meinung, dass Deutschland im europäischen Rahmen ein Gegengewicht bilden sollte, denn irgendjemand muss dem Wahnsinn der Welt und den Abschottungstendenzen verschiedener Nationen etwas entgegensetzen. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Prozesse innerhalb der EU dies verhindern. Deshalb wäre es manchmal gut, wenn Deutschland nicht auf den Rest Europas warten, sondern selbst die Initiative ergreifen würde.

DIE GESPRÄCHSPARTNER

 

  Amel Saidane 

Die in Deutschland ausgebildete Elektroingenieurin arbeitete nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat Tunesien zunächst bei Siemens und Microsoft.
Sie gründete mehrere Start-ups und ist heute eine gefragte Unternehmerin, Beraterin und Mentorin.

 

  Victor Andrusiv 

Der Politikwissenschaftler ist Direktor des Ukrainischen Zukunftsinstituts, eines unabhängigen Thinktanks, der 2016 von Vertretern aus Wirtschaft,
Politik und dem öffentlichen Sektor gegründet wurde.

Deutschland wird immer wieder als „Soft Power“ bezeichnet. Ist diese Bezeichnung zutreffend?
Saidane: Deutschland ist eine Soft Power, zeigt dabei jedoch auch Entschlossenheit. Deutschland hat oft den Mut bewiesen, bei schwierigen Entscheidungen die Führung zu übernehmen, beispielsweise in Bezug auf die nach Europa kommenden Flüchtlinge. Deutschland führt einen Dialog und ist dadurch glaubwürdig. Und im Unterschied zu manch anderem Land in der Welt ist Deutschland niemals eine One-Man-Show.

Andrusiv: Da stimme ich zu. Doch die neuen Bedrohungen und Konflikte können Deutschland auch schwächen. Natürlich bringt Soft Power nicht immer die gewünschten Ergebnisse, was den russischen Präsidenten Putin und andere dazu veranlasst, dies in ihrem Interesse zu nutzen. Daher sollte sich allmählich die Einsicht durchsetzen, dass Soft Power mit anderen Maßnahmen einhergehen muss, beispielsweise mit finanziellen und auch militärischen Maßnahmen.

Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit zwischen Ihrem Land und Deutschland?
Saidane: Die Zusammenarbeit ist in sich stimmig und von Offenheit geprägt, dabei aber meiner Ansicht nach immer noch zu stark fragmentiert. In der Kooperation sollten sich beide Länder verstärkt der strategischen Ebene, den rechtlichen Rahmenbedingungen und Ähnlichem widmen. Deutschland hat in Tunesien großen Einfluss und sollte diesen vielleicht dazu nutzen, um gezielt Lobbyarbeit zu betreiben. Außerdem arbeitet die deutsche Entwicklungszusammenarbeit häufig isoliert. Durch eine stärkere Kooperation mit anderen Gebern könnte sie noch erfolgreicher werden. Gleichzeitig würden solche Kooperationen der Fragmentierung entgegenwirken.

Andrusiv: Die Ukraine wird von Deutschland in den Bereichen Infrastruktur, Dezentralisierungsreform und technische Zusammenarbeit stark unterstützt. Doch müssten die Ergebnisse der Entwicklungszusammenarbeit meiner Ansicht nach schneller sichtbar sein. So wird beispielsweise viel Geld ausgegeben, um den Dezentralisierungsprozess voranzubringen. Ziel ist, dass die kommunale Ebene mehr politische Macht und mehr Finanzmittel bekommt. Sehr kleine Gemeinden können sich mit anderen zusammenschließen, um Aufgaben wie den Bau von Schulen und Krankenhäusern besser zu bewältigen. Etwa 3.400 Gemeinden haben sich bereits dazu entschlossen; bei 7.800 steht diese Entscheidung noch aus. Das könnte meiner Ansicht nach schneller vorangehen. Das eigentliche Problem ist in meinen Augen jedoch das Fehlen von Fach- und Führungskräften. Deutschland sollte anstelle des ukrainischen Staates die Zivilgesellschaft unterstützen und den Bildungssektor fördern. Die Entwicklungszusammenarbeit sollte stärker auf einen horizontalen Ansatz setzen, also auf die Zusammenarbeit zwischen deutschen und ukrainischen Unternehmen oder zwischen deutschen und ukrainischen Nichtregierungsorganisationen.

„Aus ukrainischer Sicht handelt Deutschland sehr verantwortungsvoll, wenn es um Souveränität, Menschenrechte und Reformen geht.“

  VICTOR ANDRUSIV 

Was genau erwarten Sie von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft?
Andrusiv: Ich erhoffe mir gute und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutschen und Ukrainern, und zwar vor allem auf Ebene der Gesellschaft, nicht auf Ebene des Staates.

Saidane: Wie gesagt, ich würde es vorziehen, wenn Deutschland mehr auf strategischer Ebene und weniger auf Projekt­ebene arbeiten würde.

Wo sehen Sie Deutschland auf internationaler Ebene in zehn Jahren?
Saidane: Ich sehe Deutschland in zehn Jahren als eines der weltweit führenden Länder auf dem Gebiet der industriellen Entwicklung und der Digitalisierung. Ein Land, das Menschen aus der ganzen Welt anzieht, die Deutschland offener und vielfältiger machen. Deutschland wird künftig mehr Führungsverantwortung übernehmen und Europa reformieren, so dass die EU stärker und flexibler wird. Und Deutschland wird neue Wege im Umgang mit Afrika und der innovativen afrikanischen Jugend beschreiten.

Andrusiv: In meiner Vorstellung steht Deutschland in zehn Jahren im Mittelpunkt einer neuen, weltweiten Bewegung, die sich für Frieden und nachhaltige Entwicklung stark macht. —

Das Gespräch führte Friederike Bauer.

BLICK AUF DIE UKRAINE

 

Die Studie „Deutschland in den Augen der Welt“, an der Amel Saidane und Victor Andrusiv teilnahmen, führte die GIZ bereits zum dritten Mal durch. Nach ihrem Vorbild entstand nun erstmals eine Studie über das Bild der Ukraine in Deutschland. Die Proteste in Kiew, die Krim und der Krieg im Osten haben das Land zwar kurzzeitig in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, auch in Deutschland. Heute ist dies aber nicht mehr der Fall, obwohl die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine vielfältig und vielschichtig sind. Die GIZ hat 44 deutsche Ukraine-Kenner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft befragt. Zentrale Ergebnisse: Die Ukraine sei ökonomisch ein „schlafender Riese“, der reich ist an Rohstoffen, aber auch über viel ungenutztes Potenzial verfügt. Mangelnde Rechtssicherheit schade Firmen, deshalb sei die Justizreform von großer Bedeutung. Gefährlich sei die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen. Politisch müsse die Ukraine ein „europäisches Projekt“ bleiben. —

 

Download: www.ukraine-woche.de
Bestellungen der gedruckten Version per E-Mail an andreas.schumann-von@giz.de

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