Binnenvertriebene in Kolumbien

Neustart im eigenen Land

Nach mehr als 50 Jahren Bürgerkrieg ist Kolumbien weltweit das Land mit den meisten Binnenvertriebenen. Der Friedensvertrag mit der FARC wurde inzwischen vom Parlament verabschiedet, doch nun muss er mit Leben gefüllt werden. Versöhnungsprojekte wie in der Stadt Florencia zeigen, wie eine hoffnungsvolle Zukunft aussehen kann.

Text und Fotos
Thomas Wagner

Die Andengipfel am Horizont sind in Nebel gehüllt. Der Dauerregen hat den Sandweg vor den bunt gestrichenen Häusern in La Ilusión, einem Viertel in der kolumbianischen Provinzhauptstadt Florencia, in eine Schlammpiste verwandelt. 

Unermüdlich: María Leíver Urrego, selbst Opfer des Konflikts, setzt sich für Vertriebene ein. Am Abend näht sie Kleider für ein kleines Einkommen.
Unermüdlich: María Leíver Urrego, selbst Opfer des Konflikts, setzt sich für Vertriebene ein. Am Abend näht sie Kleider für ein kleines Einkommen.

María Leíver Urrego und ihre Nachbarn stört das nicht. Die 30 Frauen, Männer und Kinder haben die Regenschirme aufgespannt und sich in einem Kreis aufgestellt. Würziger Dampf steigt aus den drei Kesseln vor ihnen und mischt sich mit den Regentropfen. Am Vormittag haben sie gemeinsam Kartoffeln geschält und Hühnchen gerupft. Jetzt, um die Mittagszeit, sprechen sie Dankesworte in die Runde. „Gemeinsam sind wir stark“, sagt Urrego, als sie an der Reihe ist. Dann teilen sie den Eintopf miteinander. 

Die rund 400 Bewohner von La Ilusión leben vor, was in dem von Gewalt zerrissenen südamerikanischen Land vielerorts noch Zukunftsmusik ist. Ehemalige Kämpfer und Menschen, die von ihnen vertrieben wurden, leben hier Tür an Tür. „Wir passen aufeinander auf“, sagt Urrego bestimmt.

Mehr als acht Millionen Opfer von Gewalt und Vertreibung

Das hat auch mit dem einige Straßenzüge entfernten Zentrum der Stiftung für Versöhnung zu tun. Die GIZ unterstützt dessen Arbeit seit 2015 im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In den zweiwöchigen Fortbildungen des Zentrums saßen Urrego und ihre Nachbarn – Opfer und Täter – in einem Raum, diskutierten, lernten einander kennen und besser verstehen. Sozialarbeiter begleiteten die schwierige Annäherung der beiden Seiten. „Vergessen habe ich nicht, aber ich habe verziehen“, sagt die 54-jährige Urrego im Rückblick.

In Kolumbien leben weltweit die meisten Vertriebenen – mehr als in Syrien und seinen Anrainerstaaten. Es ist das traurige Erbe eines mehr als 50 Jahre währenden Konflikts zwischen Regierung, „Guerilla“ genannten linken Rebellen sowie rechten Paramilitärs. Die Mitglieder der Guerilla kämpften ursprünglich für soziale Gerechtigkeit in dem südamerikanischen Land, wo die Kluft zwischen Arm und Reich so breit ist wie fast nirgendwo sonst auf dem Kontinent. Viele Guerillakämpfer wurden jedoch selbst zu Tätern. Mehr als acht Millionen Opfer von Gewalt und Vertreibung gibt es offiziell, darunter mehr als 200.000 Tote und Tausende Verschwundene. Die größte Gruppe aber bilden die 6,8 Millionen Binnenvertriebenen. 

Tränen fließen, als sie den Tag ihrer Vertreibung schildert

Urrego strahlt Güte aus, keine Spur von Verbitterung. Sie stammt aus einem Dorf vier Autostunden südlich von Florencia. Dort, wo die östliche Andenkette in fruchtbare Savanne übergeht, hatte ihre Familie einen kleinen Hof gepachtet. Ihr ältester Sohn war beim Militär, der zweitälteste Polizist. Rund 120 Hühner und eine kleine Schweinezucht gaben ihnen ein Auskommen. An einem sonnigen Augusttag im Jahr 2010 zerstörten Rebellen der größten Guerillagruppe die ländliche Idylle, schwer bewaffnete Mitglieder der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, kurz FARC. 

„Sie beschuldigten meine Söhne, Informanten zu sein, und wollten sie mitnehmen“, erzählt Urrego. Ihre Stimme bricht für einige Sekunden. Sie wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Noch in derselben Nacht brach die Familie zu einem Gewaltmarsch auf, zwei Kleinkinder in den Armen. Ein freundlicher Lkw-Fahrer nahm sie mit in die Hauptstadt Bogotá. Sechs Monate hausten sie dort – sieben Personen, drei Generationen in einem Zimmer. Dann hielten sie es nicht mehr aus und zogen nach Florencia, wo Verwandte sie anfangs unterstützten.

Florencia ist die Hauptstadt der Provinz Caquetá, einer der historischen Hochburgen der FARC. Dort wüteten die Kämpfe besonders heftig. Drei von vier Einwohnern Florencias leben nur aus einem einzigen Grund hier: Sie suchten Zuflucht in der Großstadt, die durch Anonymität und viele Nachbarn mehr Sicherheit bietet.

Warme Mahlzeit: Urrego (unter dem grünen Regenschirm) freut sich mit ihren Nachbarn über den geteilten Eintopf.
Warme Mahlzeit: Urrego (unter dem grünen Regenschirm) freut sich mit ihren Nachbarn über den geteilten Eintopf.

Kolumbiens Zukunft bleibt ungewiss: Im August 2016 einigten sich FARC und Regierung auf ein historisches Friedensabkommen. Anfang Oktober lehnte die Bevölkerung den Friedensvertrag in einem Referendum ab. Die Gegner des Vertrages kritisierten, dass die Rebellen darin zu nachsichtig behandelt würden. So sollte etwa die FARC zu einer politischen Organisation werden, für die in den nächsten Jahren Parlamentssitze reserviert werden sollten. Der Vertrag wurde überarbeitet und schließlich Ende November vom Parlament verabschiedet. 

Die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos steht dennoch vor riesigen He­rausforderungen. 2011 brachte er ein Opfergesetz auf den Weg, das als Aufbruch in eine neue Ära gefeiert wurde. Es erfüllte die Erwartungen aber nur teilweise. So geht beispielsweise die Entschädigung und Wiedereingliederung der vom Konflikt Betroffenen nur schleppend voran. Viele wissen nicht einmal, dass sie ein Recht auf Entschädigung haben, oder sie lassen sich von der Bürokratie abschrecken. Dennoch erfüllt sich offenbar die Hoffnung, dass der Krieg zwischen Regierung und Rebellen nach fünf Jahrzehnten endlich ein Ende findet. Das würdigte auch das Nobelpreiskomitee: Es verlieh Santos für seine Verdienste im Dezember in Oslo den Friedensnobelpreis. 

Von Ohnmacht zu Selbstbestimmung

Das politisch Beschlossene muss nun auch in der Gesellschaft ankommen: Die GIZ unterstützt deshalb staatliche und nichtstaatliche Institutionen in Florencia, ihre Arbeit für die Opfer enger aufeinander abzustimmen, erklärt Hermán Bernal. Er und seine Kollegen brachten Betroffene, Stadtverwaltung, Opferbehörde, Nichtregierungsorganisationen und internationale Partner wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und die Internationale Organisation für Migration gemeinsam an einen Tisch. „So erreichen wir diejenigen besser, die unsere Hilfe brauchen“, sagt Bernal.

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Was heißt das konkret für die Bewohner von La Ilusión? Die meisten von ihnen sind Vertriebene ohne festen Job und ohne Anrecht auf die Grundstücke, auf denen ihre kleinen Häuser stehen. Das Bürgermeisteramt unterstützt sie dabei, die Besitzverhältnisse rechtlich zu regeln, und bietet Mikrokredite als Starthilfe für selbstständige Tätigkeiten an. Die staatliche Ombudsstelle nimmt die Aussagen der Konfliktopfer auf – das ist Voraussetzung dafür, dass sie eine Entschädigung erhalten. „Die verschiedenen Hilfeleistungen kommen jetzt als eine an“, fasst María Leíver Urrego zusammen.  

Der Eingang ihres Hauses ist aus schweren Holzplatten gezimmert. Rechterhand ersetzt die Wand des Nachbarn die eigene. Mit einer Gardine hat sie ein kleines Schlafzimmer abgetrennt. Der Boden des Hauses ist nicht zementiert. „Wenn es regnet wie heute, kommt Wasser herein“, sagt Urrego. Dennoch ist sie zufrieden. 

Urrego wurde 2015 zur Sprecherin des runden Tischs der Opfer von Florencia gewählt. Täglich trifft sie sich mit Menschen, die – wie sie – durch den Konflikt entwurzelt sind. Sie erklärt ihnen ihre Rechte und sucht gemeinsam mit der Stadtverwaltung und anderen Partnern Wege, wie sie einen Job finden können. 

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Urrego hat einen Termin in der Siedlung La Granja, einige Kilometer außerhalb von Florencia. „Ich besuche regelmäßig die Projektteilnehmer, um zu schauen, dass alles seinen Gang geht“, sagt sie. Der Hof von Gloria Vargas Grafe und Arnulfo Sanabria ist sauber und aufgeräumt. Der Rasen ist kürzer geschnitten als in einem deutschen Schrebergarten. An den Holzwänden hängen Fotos der Kinder. Grafe und Sanabria wurden vor zwölf Jahren von der FARC-Guerilla vertrieben. Damals hielten sie Hühner auf ihrem Hof und bauten Maniok und Kochbananen an.

Meist hält sich Grafe, eine schüchterne Frau Anfang 50, hinter ihrem Mann zurück. Doch der Hühnerstall hinter dem Haus ist ihre Domäne. Etwa 40 Hühner gackern dort. Grafe hebt ein Ei auf. „Das macht schon 14 heute.“ Die GIZ gab ihr im Dezember 2015 etwa 20 Hühner und Material für den Bau des Stalls, zudem beriet sie das Paar zur Hühnerhaltung. Mittlerweile verkauft Grafe ihre Eier bereits an die Nachbarn. 

"Mit leerem Magen gibt es keinen Frieden"

Sechs weitere Bauern aus der Siedlung bauten mit einer ähnlichen Starthilfe kleine Hühner- oder Fischzuchten auf. 2016 folgten noch mehr Familien, ausgewählt von Urregos rundem Tisch. „Mit leerem Magen gibt es keinen Frieden“, sagt sie. 

Urregos Kalender ist prall gefüllt. Sie wird zu einer Versammlung auf dem San-Francisco-Platz im Zentrum von Florencia erwartet. Anlass ist der nationale Gedenktag für die Opfer des Konflikts. Alle sind gekommen – die Nachbarn aus La Ilusión, die Stadtangestellten. Urrego ist nervös, sie soll eine Rede halten. Ein letztes Mal geht sie ihren Zettel mit den Stichpunkten durch. 

Ein Vollzeitjob: Einsatz für die Rechte der Vertriebenen

Dann steigt sie auf die Bühne und spricht. Die Leute applaudieren. Vor zwölf Monaten war sie noch eine einfache Frau vom Land, nun ist sie eine Lobbyistin der Menschen, die ihre Heimat verloren haben. „Anderen zu helfen, gibt mir Kraft“, sagt Urrego.

Kraft braucht sie, denn ihr Ehrenamt ist ein Vollzeitjob. Um vier Uhr morgens steht sie auf. Selten geht sie vor Mitternacht ins Bett. In den Abendstunden sitzt sie an der Nähmaschine und fertigt Kleider auf Bestellung. Es ist ihr einziges Einkommen. „Sogar meine Enkeltöchter sagen mir: ‚Oma, du musst dir mehr Zeit für dich nehmen.‘“ Zum Ausruhen aber hat Urrego keine Gelegenheit. Sie will ihr Abitur nachholen und dann Jura studieren, um die Rechte der Vertriebenen noch besser verteidigen zu können.

Ansprechpartnerin: Sabine Kittel  > sabine.kittel@giz.de

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Projekt: Strukturelle Stärkung der Betreuung und Integration intern Vertriebener in der Provinz Caquetá in Kolumbien
Land: Kolumbien
Auftraggeber: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Politischer Träger: Regierung der Provinz Caquetá
Laufzeit: 2014 bis 2017

Vertriebene in Kolumbien haben ein Recht auf staatliche Unterstützung, wenn sie im Opferregister eingetragen sind. Doch selbst viele der darin erfassten Menschen – 200.000 sind es in der Provinz Caquetá – wissen nichts von den Hilfsangeboten. Für die nicht registrierten Betroffenen gilt das umso mehr. Die GIZ unterstützt deshalb staatliche und nichtstaatliche Stellen in Caquetá, die Registrierung sowie die Beihilfen und Informationsangebote für Opfer besser zu koordinieren. Dafür ist eine zentrale Servicestelle in der Hauptstadt Florencia entstanden. Auch Genossenschaften oder Bauernorganisationen bekommen dort Unterstützung, um Regierungsgelder zu beantragen. Darüber hinaus können Betroffene sich beruflich fortbilden und erfahren, wie sie in Kontakt mit Arbeitgebern kommen. Mehr als 3.500 Personen, vor allem Frauen, haben so ihr Einkommen erhöht.