Essay

Leben oder Existenzen retten?

Entwicklungsländer trifft die Corona-Krise ganz besonders. Wie sie bisher damit zurechtgekommen sind, schildern die südafrikanischen Wissenschaftler*innen Elizabeth Sidiropoulos und Steven Gruzd.

Text
Elizabeth Sidiropoulos und Steven Gruzd
Fotos
Illustrationen: Florian Bayer

Das Coronavirus hat Entwicklungsländer in einer Zeit des Aufbruchs getroffen – als sie eben dabei waren, Armut und Hunger zu bekämpfen, die Ausbildung ihrer Kinder zu verbessern, die Landwirtschaft zu modernisieren und ihre Volkswirtschaften zu entwickeln. So hatten gerade diverse ärmere Länder rund um den Globus in den letzten Jahren stetige Fortschritte gemacht. Dann schlug die Pandemie zu, zwang Gesellschaften in den Lockdown und gefährdete den Lebensunterhalt vieler Menschen.

 

In Kibera zum Beispiel, Nairobis größtem Slum, gab es einen Massenansturm auf Mehl und Speiseöl, die während des Lockdowns verteilt wurden. Dutzende Menschen wurden verletzt, zwei kamen ums Leben. 70 Prozent aller Arbeitskräfte in Subsahara-Afrika sind selbstständig und zumeist im informellen Sektor tätig; das heißt, sie verdienen wenig und haben keine Absicherung. Für sie bedeutet ein noch geringeres Wocheneinkommen schlicht kein Essen. Es ist daher zu befürchten, dass die Pandemie zu mehr Hungertoten führen wird.

Entwicklungsländer stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie Industriestaaten, aber die Folgen wirken ungleich heftiger. Gründe sind etwa die größere Ungleichheit, die ausgedehnte Schattenwirtschaft oder Probleme mit Hygiene und Abstandsregeln in beengten Elendsvierteln. 

IN DIESEM BEITRAG

 

1. DIE KRISE
Warum die Auswirkungen von Covid-19 Schwellen- und Entwicklungsländer besonders hart treffen.

 

2. DIE GEFAHREN
Jenseits des Virus bedroht die Pandemie Menschen mit Wirtschaftseinbrüchen und Einschränkungen demokratischer Rechte.

 

3. DIE CHANCEN
Welche positiven Veränderungen langfristig aus der Krise erwachsen können.

Hinzu kommen fragile Gesundheitssysteme, deren strukturelle Schwächen im Lauf der Krise noch einmal offenbar wurden: fehlende Verantwortlichkeit, Mangel an Testkapazitäten, Schutzkleidung, Medikamenten, Beatmungsgeräten, Krankenhausbetten, vor allem auf den Intensivstationen, und der Personalmangel. Nach Schätzung der Weltbank kommt in Afrika ein Arzt auf 80.000 Menschen. Als die Pandemie in Afrika ankam, gab es beispielsweise im Schnitt weniger als ein Intensivbett und ein Beatmungsgerät pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nigeria, Äthiopien und Ägypten – die drei bevölkerungsreichsten Länder des Kontinents – hatten zusammen 1.920 Intensivbetten für mehr als 400 Millionen Menschen.

 

Ringen mit der Krise

Inzwischen haben alle Entwicklungsländer Maßnahmen ergriffen, um die negativen Auswirkungen der Pandemie für Unternehmen, Arbeitnehmende und gefährdete Bevölkerungsgruppen abzumildern. Kolumbien zum Beispiel zahlte umgerechnet etwa je 40 Dollar an drei Millionen einkommensschwache Familien aus. Auch Peru, wo 70 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor arbeiten, erhöhte die üblichen Hilfszahlungen. Da jedoch viele der Nutznießerinnen und Nutznießer kein Bankkonto haben, mussten die Beträge häufig in bar ausgezahlt werden. Das sorgte für lange Schlangen vor und in den Banken, bei denen dann die Abstandsregeln missachtet wurden.

In Südafrika verloren während des fünfwöchigen totalen Lockdowns etwa drei Millionen Menschen ihre Arbeit oder ihr Auskommen, vor allem im informellen Sektor. Tausende von Unternehmen waren gezwungen, ihre Belegschaft zu verkleinern oder den Betrieb ganz einzustellen. All jene, die nicht sozialhilfeberechtigt waren, erhielten 21 Dollar pro Monat Hilfe. In Bangladesch gingen ebenfalls viele Arbeitsplätze verloren. Besonders betroffen waren dort Frauen, weil sie zu 92 Prozent in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Weltweit haben Regierungen damit gerungen, einerseits Leben und andererseits Existenzen zu retten. Nicht immer ist ihnen dieser Balanceakt gelungen.

„Weltweit haben Regierungen damit gerungen, einerseits Leben und andererseits Existenzen zu retten.“

Wiederkehr des Staates

Die Pandemie hat zudem einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig ein handlungsfähiges Staatswesen ist. In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires zum Beispiel koordinierten sich die drei politischen Ebenen – national, regional und lokal – hervorragend. Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, die täglich Bericht erstatteten, um evidenzbasiert zu planen, zu kontrollieren und Politik zu gestalten. Die Stadt erließ über 100 Verordnungen und Maßnahmen, die die Bürgerinnen und Bürger, darunter auch Schulkinder, Seniorinnen und Senioren, bei dem nationalen Lockdown gut unterstützten.

Auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) spielten eine bedeutsame Rolle, in Lateinamerika genauso wie in Afrika, vor allem wenn es darum ging, gefährdete Gruppen zu versorgen. Getragen wurden diese Initiativen vielfach von Frauen. Ein Beispiel ist die Kampagne „Seamos Uno“ in Argentinien, in der sich viele Organisationen der Zivilgesellschaft, die Kirche und die Wirtschaft zusammentaten, um Lebensmittel in notleidende Viertel zu liefern.

Viele NGOs haben auch schon Erfahrungen mit HIV/Aids gesammelt, die sie jetzt beim Thema Corona nutzen konnten. Im Senegal etwa verteilte die NGO „Enda Santé“ Schutzmaterial und Lebensmittelpakete in jenen Gegenden, von denen sie schon aus der Aids-Arbeit wusste, dass sie am meisten Hilfe benötigten.

Vorwand zur Aushöhlung der Demokratie

Doch der Notstand, der in vielen Ländern rund um den Globus ausgerufen wurde, ist auch missbraucht worden. Übereifrige Kontrollen, ob Corona-Auflagen eingehalten werden, haben nicht selten zu Menschenrechtsverletzungen geführt. In Sambia, das ohnehin vom demokratischen Pfad abkommt, wurde Covid-19 als Vorwand genutzt, das Parlament aufzulösen.

In Südafrika, wo die Armee zur Unterstützung der Polizei eingesetzt wurde, um die Einhaltung der Ausgangssperre zu überwachen, kam es allein bis Ende Mai zu 230.000 Verhaftungen. Und wegen des überharten Vorgehens der Sicherheitskräfte waren zahlreiche schwere Verletzungen und mindestens elf Todesfälle zu beklagen. Am meisten Aufsehen erregte der Fall von Collins Khoza aus einer Township in Johannesburg, der von der Armee festgenommen wurde und im Gewahrsam starb. In Kenias Hauptstadt Nairobi wiederum wurde ein 13-Jähriger von der Polizei getötet, als er während der Ausgangssperre auf seinem Balkon stand.
Auch in Simbabwe wurden im Juli Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen. Präsident Emmerson Mnangagwa bezeichnete die aufgelösten Demonstrationen als „Aufstand“ und als Versuch, „unsere demokratisch gewählte Regierung zu stürzen“. In Indien nutzte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse, um mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten zu verhaften oder zu schikanieren, die sich kritisch zur staatlichen Reaktion auf die Corona-Krise geäußert hatten.

„Übereifrige Kontrollen, ob Corona-Auflagen eingehalten werden, haben nicht selten zu Menschenrechtsverletzungen geführt.“

Viele Wahlen fanden trotzdem statt

Doch trotz der Coronavirus-Pandemie fanden weltweit zwischen Februar und August mehr als 80 Wahlen, Nachwahlen, Vorwahlen und Referenden statt. Diese Zahlen hat das International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) ermittelt. Allerdings wurden auch mehr als 60 vertagt und verlegt. In Bolivien beispielsweise wurden die Parlamentswahlen gleich zwei Mal verschoben.

Die Quarantänebestimmungen beeinträchtigten auch die internationale Wahlbeob-achtung. Das kann die Legitimität von Wahlen gefährden, manchmal aber auch Wahlbeobachterinnen und -beobachter vor Ort stärken. In der Mongolei zum Beispiel protestierte eine Gruppe namens „Koalition für faire Wahlen“ mit Erfolg gegen Einschränkungen ihrer Arbeit.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Covid-19 Bürgerrechte und Good Governance gefährdet. Die Zivilgesellschaft muss in diesen Zeiten besonders wachsam sein. Wie lange die Notstandsrechte bleiben, ob sie in manchen Ländern womöglich über die Pandemie hinaus gelten, wird erst die Zukunft zeigen.

 

Neue Formen der Produktion

Mit am gravierendsten aber sind die wirtschaftlichen Folgen. Die Weltbank prognostiziert einen Rückgang des weltweiten Bruttosozialprodukts für das Jahr 2020 von 5,2 bis 8 Prozent. Die Schwellenmärkte und die Entwicklungsländer, so die Angaben, würden ihr niedrigstes Wachstum seit 60 Jahren erleben. Es entstünden Verluste in Handel und Tourismus, Finanztransaktionen gingen zurück, Schulden stiegen.

Die Corona-Krise hat den internationalen Handelsverkehr gestört und dabei gezeigt, wie etwa Afrika bei der Versorgung mit Lebensmitteln und medizintechnischen Produkten vom Ausland abhängig ist. Rund 96 Prozent aller medizinischen und pharmazeutischen Produkte wurden importiert.

Auch die Wertschöpfungsketten für Tee, Kaffee und Schnittblumen, etwa in Kenia und Äthiopien, wurden weitgehend unterbrochen. Allein im April verlor die kenianische Gartenbauwirtschaft 3,5 Millionen Dollar – pro Tag. 80 Prozent ihrer Blumenexporte gehen nach Europa, aber die Frachtmaschinen konnten nicht starten. Und als die Flüge wieder aufgenommen wurden, blieb das Exportvolumen bei der Hälfte gegenüber dem Niveau vor Ausbruch der Pandemie.

Allerdings zwang Covid-19 zahlreiche Unternehmen in Afrika auch dazu, die Produktion auf lebensnotwendige Güter umzustellen und so einen Strukturwandel herbeizuführen. Der Unterwäschehersteller Hela Clothing in Kenia wechselte auf Atemschutzmasken und produzierte allein im April und Mai zehn Millionen Stück. CIEL Limited fertigt in seiner Fabrik in Madagaskar jetzt medizinische Schutzkleidung. Und die Ethiopian Airlines wandelte Passagierflugzeuge in Frachtmaschinen um.

Es gibt noch einen weiteren positiven Aspekt: Die Krise könnte die Bereitschaft erhöhen, eine afrikanische Freihandelszone über den gesamten Kontinent einzurichten. Sie hat das Ziel, Lieferketten innerhalb Afrikas aufzubauen, nicht zuletzt in den Bereichen Pharmazie und Medizintechnik.

„Covid-19 gefährdet Bürgerrechte und Good Governance. Die Zivilgesellschaft muss in diesen Zeiten besonders wachsam sein.“

Was geschieht mit den Nachhaltigkeitszielen?

Leider schlagen sich die Billionen, die auf der Nordhalbkugel mobilisiert werden, nicht in gleichem Maße in den Hilfsetats für Schwellen- und Entwicklungsländer nieder. Schon vor der Corona-Krise gab es einen Trend weg von Zuschüssen hin zu Krediten. Und trotzdem erreichten die Geberländer nicht das international vereinbarte Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden. Sollte dieser Trend fortbestehen, wird es noch schwieriger, die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) zu erreichen, Entwicklungserfolge der letzten zwanzig Jahre werden untergraben.

In Zeiten der Coronavirus-Pandemie sollten sich Hilfen deshalb einerseits auf den Sozialbereich und das produzierende Gewerbe konzentrieren, aber andererseits auch Gesundheitssysteme stärken. Kooperationen zwischen Ländern des Südens hat es früher schon gegeben, doch ist in dieser Hinsicht noch viel mehr möglich. Kuba hat beispielsweise Medizinbrigaden in mehr als zwanzig Länder entsandt, um dort lokale Initiativen zu unterstützen, darunter Italien, Mexiko und Südafrika.

Globale Machtverschiebungen

Eine weitere Folge ist die Machtverschiebung von den USA zu China, die Covid-19 beschleunigen wird, denn die Volksrepublik positioniert sich als Verteidigerin des Multilateralismus. Die Entwicklungsländer könnten in diese geopolitischen Ri­valitäten geraten und es schwer haben, neutral zu bleiben. Andererseits eröffnet sich für aufstrebende Kräfte unter den Entwicklungs- und Schwellenländern die Möglichkeit, international eine größere Rolle zu spielen.

So hat zum Beispiel schon zu Beginn der Pandemie eine Reihe von Staatschefs aus Entwicklungsländern darauf bestanden, dass ein Impfstoff gegen das Virus ein globales öffentliches Gut sei. Ein Produkt, das frei bleiben solle, massenhaft hergestellt und gerecht verteilt an alle. Zu diesen Stimmen gehörten der Präsident Südafrikas, Cyril Ramaphosa, der pakistanische Premierminister Imran Khan, der Präsident des Senegal, Macky Sall, und der ghanaische Präsident Nana Akufo-Addo.

Die Reaktionen auf die Corona-Krise unterscheiden sich deutlich innerhalb der Entwicklungsländer. Allen gemein jedoch sind die Probleme, die daraus erwachsen: Millionen Arbeitsplätze verloren, die Wirtschaft geschrumpft, die Ärmsten überproportional getroffen. Da ihr fiskalischer Spielraum begrenzt ist und auch die großen Wirtschaftspartner aus dem Norden unter den Folgen leiden, werden sie sich in der Post-Corona-Zeit in einem schwierigen Umfeld wiederfinden.

Große Katastrophen sind Vorboten großer Veränderungen

Doch bei allem Beklagenswerten gibt es auch positive Aspekte wie die Chance, die digitale Kluft zu verkleinern und beim E-Commerce zuzulegen. Weitere Chancen liegen darin, Teile des produzierenden Gewerbes umzustellen und die reinen Rohstoff­ökonomien so umzubauen, dass ­regionale Versorgungsketten entstehen.

Keinesfalls sollten Staaten und Gesellschaften die Nachhaltigkeitsziele aufgeben, sondern ihre Anstrengungen jetzt verdoppeln, indem sie die oben genannten Chancen ergreifen. Gerade jetzt sollte die Welt Erfolge erkennen, feiern und anderswo wiederholen – angepasst an lokale Gegebenheiten. Aus der Geschichte können wir lernen, dass große Katastrophen Vorboten für große Veränderungen sind. Genau wie nach den beiden Weltkriegen. In so einem historisch bedeutsamen Moment befinden wir uns auch jetzt wieder.

aus akzente 2/20