Neuanfang im Nordirak

Hoffnung im Angebot

Nach dem Krieg gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ helfen schnell zu realisierende und rasch wirkende Projekte, die Lebenssituation im Nordirak zu verbessern.

Text
Gabriele Rzepka
Fotos
Fabian Schwan-Brandt

Es geschah an einem sommerlichen Tag im Mai 2016 in einer kleinen Ortschaft nahe Kirkuk im Nordirak. Das Leben, so wie Mohammad Mahmood Ibrahim es bis dahin kannte, nahm ein jähes Ende. Mit sechs weiteren Peschmerga-Kämpfern geriet er in eine Bombenfalle, die die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) hinterlassen hatte. Fotos vom Ort der Explosion zeigen ihn leblos auf dem Boden liegend: blutüberströmt, schwarz von Pulver und Staub, das halbe Gesicht zerstört. Der herbeigeeilte Rest der Truppe hielt ihn zunächst für tot. Doch dann be­merkten Sanitäter, dass er noch lebte. Fünf seiner Kameraden waren bei dem Anschlag gestorben, ein weiterer wurde ebenfalls sehr schwer verletzt.

Mohammad Mahmood Ibrahim hatte sich nach seiner schweren Kriegsverletzung schon fast aufgegeben. Heute führt er in Erbil ein eigenes Geschäft und kann wieder lachen.
Mohammad Mahmood Ibrahim hatte sich nach seiner schweren Kriegsverletzung schon fast aufgegeben. Heute führt er in Erbil ein eigenes Geschäft und kann wieder lachen.

Es folgten Wochen in Krankenhäusern, Ibrahims Wunden verheilten allmählich. Doch niemand konnte ihm das verlorene Auge ersetzen, die ständigen Schmerzen verschwinden lassen. Dem jungen Kurden war klar, dass seine Zukunft und die seiner Familie in Trümmern lag: „Ich hatte fünf meiner Freunde vor meinen Augen in Fetzen fliegen sehen. Ich bin als ein Krüppel nach Hause gekommen, konnte meinen Beruf als Bauarbeiter nicht mehr ausüben. Verzweiflung – dieses Wort reicht nicht aus, um zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe.“/p>

Ibrahims Eltern und seine Frau Gazung Nahro Mustafa nutzten ihre Ersparnisse, um den damals 26-Jährigen medizinisch optimal zu versorgen. Medikamente und Operationen in einer privaten Augenklinik bezahlten sie aus eigener Tasche.

Ibrahims Frau Gazung Nahro Mustafa machte sich große Sorgen um ihren Mann und die Zukunft der vierköpfigen Familie. „Es war eine schlimme Zeit für uns alle.“
Ibrahims Frau Gazung Nahro Mustafa machte sich große Sorgen um ihren Mann und die Zukunft der vierköpfigen Familie. „Es war eine schlimme Zeit für uns alle.“

Das Geld schmolz schnell dahin. Gazung Mustafa wusste nicht, wie sie über die Runden kommen sollte: „Ich habe versucht, mit der Kriegsrente meines Mannes auszukommen, aber ohne die Hilfe der Schwiegereltern hätte ich das nicht geschafft.“ Für Ibrahim wurde die Situation zu Hause von Tag zu Tag unerträglicher. Die ständigen finanziellen Sorgen und die Zweifel, ob er mit seinen Verletzungen je wieder arbeiten könne, nagten an ihm. Seine Frau erinnert sich: „Meist lag er den ganzen Tag vor dem Fernseher im Wohnzimmer und hat sich nicht gerührt. Es war eine schlimme Zeit für uns alle.“

„Dieser Laden hat mich und meine Familie gerettet.“

MOHAMMAD MAHMOOD IBRAHIM, ehemaliger Peschmerga-Kämpfer

Die Wende brachte das eigene kleine Geschäft, in dem Ibrahim seit September 2017 Haushaltswaren verkauft. Es liegt in Erbil im Ortsteil Bnaslawa, direkt gegenüber dem Rathaus. Der Laden läuft gut, jeden Monat verdient Ibrahim damit netto zwischen 250.000 und 450.000 Dinar, umgerechnet rund 180 bis 330 Euro. Seine Kriegsversehrtenrente vom Peschmerga-Ministerium fließt dagegen nur sehr spärlich. In der Autonomen Region Kurdistan herrscht eine schwere Wirtschaftskrise. Die Jahre der Kämpfe gegen den IS und die Versorgung von Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen haben die Staatskassen geleert. Umso mehr begrüßte das Peschmerga-Ministerium die Möglichkeit, mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH einigen kriegsversehrten Soldaten bei ihrem Neubeginn beistehen zu können. Auftraggeber des Programms „Qudra“ ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Die EU beteiligt sich an der Finanzierung.

Schnell umsetzbar, schnell wirksam

Der Regionale EU-Treuhandfonds in Erwiderung auf die Syrienkrise, auch bekannt unter dem Namen „Madad“-Fonds, und das BMZ finanzieren im Nordirak schnell zu realisierende und rasch wirkende Projekte, die die Lebenssituation von Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und aufnehmender Bevölkerung verbessern. Eine Jury aus Vertretern verschiedener Ministerien und der Behörde zur Krisenkoordination des Nordirak entscheidet gemeinsam mit der GIZ, welche Vorschläge in die Tat umgesetzt werden. Von einer dieser ausgewählten Ideen profitieren Ibrahim und sechs weitere kriegsversehrte Peschmerga. Der junge Mann betont: „Dieser Laden hat mich und meine Familie gerettet – vor den finsteren Gedanken und den Ängsten um die Zukunft.“

IRAK

 

Hauptstadt: Bagdad / Einwohner: 36 Millionen (geschätzt) / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 4.610 US-Dollar / Wirtschaftswachstum: 11 Prozent / Rang im Human Development Index: 121 (von 188)

„Qudra“ ist Arabisch und bedeutet etwa „Kraft, Leistungsfähigkeit“. Das gleichnamige Programm im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums verbessert unter anderem im Nordirak Infrastruktur, Existenzsicherung, sozialen Zusammenhalt.

www.giz.de 
Kontakt: Jenny Hornisch, jenny.hornisch@giz.de

Startkapital für den Neuanfang

Den Gedanken, einen kleinen Laden zu eröffnen, hatte Ibrahim bereits seit längerem. Doch ohne Startkapital war es der Familie, die ihre wirtschaftliche Existenz verloren hatte, unmöglich, diesen Plan umzusetzen. Ein Team aus dem Peschmerga-Ministerium entwarf und baute mit Unterstützung der GIZ den neuen Laden. Die GIZ stellte das Kapital für die erste Ausstattung mit Waren bereit. Gazung Mustafa freut sich sehr: „Dreimal haben wir in den vergangenen acht Monaten schon Waren im Großhandel nachgekauft. Ich helfe meinem Mann dabei, denn ich weiß, was Frauen im Haushalt brauchen. Wir haben inzwischen schon rund 800 Euro sparen können und ich muss nicht mehr darüber nachdenken, wie ich die nächste Mahlzeit für uns und unsere beiden kleinen Töchter auf den Tisch bringe.“ Auch die nächsten medizinischen Behandlungen von Ibrahim und der Kauf von Medikamenten sind durch die Ersparnisse gesichert.

Von einer anderen Projektidee des Direktorates für Land- und Viehwirtschaft der Provinz Erbil profitieren rund 150 Bauern und ihre Angestellten. Viehwirte, die syrische Flüchtlinge beschäftigen, erhielten Melkmaschinen für ihre Schafe, Ziegen und Kühe. Vor allem für die 530 Frauen, die die Tiere melken, ist die tägliche Arbeit dadurch deutlich leichter geworden. Eine von ihnen ist die Syrerin Huda Ali Khalaf.

Der beliebteste Kollege aller Mitarbeiter auf dem Hof von Hassan Othman Pirman ist derzeit die neue Melkmaschine. Auch Huda Ali Khalaf (l.), die mit ihrer Familie aus Syrien hierher floh, erleichtert sie die Arbeit. Rechts: Sazan Hassan, eine Tochter des Bauern, mit selbst hergestelltem Joghurt.
Der beliebteste Kollege aller Mitarbeiter auf dem Hof von Hassan Othman Pirman ist derzeit die neue Melkmaschine. Auch Huda Ali Khalaf (l.), die mit ihrer Familie aus Syrien hierher floh, erleichtert sie die Arbeit. Rechts: Sazan Hassan, eine Tochter des Bauern, mit selbst hergestelltem Joghurt.

Mehr Milch, weniger Muskelschmerz

Mit ihrem Mann Mahmood Said Hussein und ihren sieben Kindern flüchtete sie 2013 in den Nordirak. Ihr Mann fand schnell einen Job als Schäfer bei Hassan Othman Pirman. Seitdem wohnt die Familie in Bastoora, auf dem Hof von Pirman. Hussein hütet die 200 Schafe und Ziegen, Khalaf melkt die Tiere jeden Morgen. „Ich hatte schon eine Sehnenscheidenentzündung und ständig Schmerzen in den Armen vom vielen Melken. Die Melkmaschine ist eine unglaubliche Erleichterung. Das Melken strengt mich nicht mehr an und ich bin eine Stunde eher damit fertig.“ Die Ausbeute an Milch ist durch den Einsatz der Maschine ebenfalls höher, denn sie arbeitet gleichmäßig bis zum letzten Tier. Aus der Milch stellt Khalaf Joghurt und Frischkäse her, die auf dem lokalen Markt verkauft werden.

Seit Mitte 2016 konnte die GIZ gemeinsam mit zahlreichen beteiligten nordirakischen Behörden und Gemeinden zwölf der schnell umsetzbaren und schnell wirkenden Projekte erfolgreich abschließen. Allein dadurch hat sich das Leben von mehr als 33.000 Menschen im Nordirak deutlich verbessert. Flüchtlinge profitieren dabei ebenso wie Einheimische. 46 weitere Projekte wollen die Partner bis Juni 2019 umsetzen. Sie kommen rund 200.000 Männern, Frauen und Kindern zugute. Die Aktivitäten sind vielfältig: Dazu gehören auch die Instandsetzung elektrischer Infrastruktur, der Bau neuer Straßen und Wasserleitungen sowie die Erweiterung eines Krankenhauses. Größere und kleinere Ideen, die das Leben vieler Familien im Nordirak deutlich erleichtern und Menschen wie dem Peschmerga-Kämpfer Mohammad Mahmood Ibrahim neue Zuversicht geben.

 

 

 

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