Reportage
Freiräume im Dickicht der Steine
Vor einigen Jahren hätte sich Hagar El-Sayed nicht vorstellen können, als ehrenamtliche Helferin im Stadtteilzentrum von Begam zu arbeiten. Der Treffpunkt hatte keinen guten Ruf, galt als unsicher – gerade für Frauen und Kinder. „Ich habe es damals nicht gewagt, meine jüngere Schwester Yasmine und meinen kleinen Bruder Aly dorthin zum Spielen hinzuschicken“, erinnert sich die 23-jährige Sekretärin. Dabei gab und gibt es in ihrem dichtbesiedelten Wohngebiet mit 150.000 Einwohnerinnen und Einwohnern keine Alternativen für die Freizeitgestaltung. Keine Parks, keine Spielplätze. Und die Wohnungen sind eng.
Hagar El-Sayed lebt mit ihrer Familie in diesem Viertel. Es gehört zu Shubra El-Kheima, mit rund 2,6 Millionen Menschen Ägyptens viertgrößte Stadt. Begam ist ein steinernes Wirrwarr mit sogenannten informellen Siedlungen, die in den letzten Jahren rasant angewachsen sind. Es gibt keine Grünflächen. Zwischen den beliebten Straßenmärkten rasen unzählige Tuk-Tuks durch die Gassen. Geschätzt 12 Millionen Menschen leben im Großraum Kairo in solchen Wohngebieten.
Früher blieben Hagar El-Sayed und ihre Geschwister am Wochenende meist Zuhause. Manchmal machten sie sich auf den Weg zu einem kommerziellen Vergnügungspark, der 20 Kilometer entfernt ist. Das dauerte lange und riss ein Loch ins Familienbudget. Doch seit zwei Jahren gibt es Freizeitspaß gleich in der Nachbarschaft: Das Stadtteilzentrum von Begam wurde nach einer grundlegenden Sanierung wiedereröffnet. Es bietet nun eine Cafeteria, eine moderne Bibliothek, Veranstaltungsräume, Spiel- und Sportflächen. Ehrenamtliche aus der Siedlung und Familien aus der Nachbarschaft haben gemeinsam mit GIZ-Fachleuten ein Konzept für ein sicheres und offenes Freizeitzentrum erarbeitet. Dafür führten sie Interviews, um die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner mit einzubeziehen.
Clubs und Freizeitzentren für alle
Freizeitzentren, in Ägypten soziale Clubs oder Jugendzentren genannt, spielen in dem Land am Nil eine wichtige Rolle. In reichen Vierteln ist die Mitgliedschaft in einem namhaften Club ein Statussymbol. Damit sich auch Menschen in weniger privilegierten Siedlungen an einem sauberen und sicheren Orttreffen und Sport machen können, werden inzwischen einige Stadtteilzentren ausgebaut. Diese Initiative gehört zum beteiligungsorientierten Entwicklungsprogramm in städtischen Ballungsgebieten (Participatory Development Programme in Urban Areas, PDP), das die GIZ im Auftrag des BMZ und kofinanziert von der EU seit 2010 umsetzt.
Auch die Bill-und-Melinda-Gates Stiftung und die ägyptische Regierung unterstützen PDP, damit die Lebensbedingungen von Menschen in bisher eher abgehängten Siedlungen verbessert werden. Dazu gehört eine funktionierende Müllabfuhr ebenso wie medizinische Versorgung, berufliche Trainingsangebote, Rooftop Farming – und soziale Integration in Stadtteilzentren wie in Begam.
Mehr Akzeptanz durch Beteiligung der Menschen im Stadtteil
Maged Adib hat schon an mehreren Projekten zur Aufwertung seines Wohngebiets mitgewirkt und arbeitete als Lehrer und Gemeindevorsteher in Shubra El-Kheima mit dem GIZ-Team zusammen. Die Forderungen der Befragten waren immer die gleichen: sichere Bereiche für Kinder, besonders für Mädchen, saubere Toiletten und mehr soziale Räume für Familien. „Die Beteiligung der Menschen im Viertel hat dazu beigetragen, das Vertrauen und die Zuversicht der Familien wiederzugewinnen“, betont der 44-Jährige. Hagar El-Sayed stimmt zu: „Es ist beeindruckend zu sehen, wie gerade Mädchen und Familien die Zeit im Zentrum genießen. Alle haben die gleichen Rechte, bekommen Dienstleistungen und Aktivitäten geboten.“ Die junge Ägypterin ist so begeistert, dass sie seit der Wiedereröffnung des Zentrums im Herbst 2018 als Ehrenamtliche Handarbeits- und Zeichenkurse für Kinder organisiert.
Die Resonanz im Viertel ist groß. Allein in den ersten sechs Monaten nach der Wiedereröffnung des Zentrums stieg die Zahl der Mitglieder um 60 Prozent – auf mehr als 300 Familien. Emad Aziz, Direktor des nationalen ägyptischen Entwicklungsverbands NEDA, der für die Renovierung des Begam-Zentrums verantwortlich war, ist sehr zufrieden. Für ihn ist der breite und integrative Ansatz wichtig: Das Zentrum bietet auch Workshops für Jugendliche, die auf Arbeitssuche sind, und Spielbereiche für Kinder mit Behinderungen.
Kung-Fu für Mädchen und Jungs
Ortswechsel: Boulaq El Dakrour liegt rund 30 Kilometer südlich von Begam. Es ist ein weiteres Beispiel für eine extrem verdichtete Siedlung im Großraum Kairo. Auch hier gibt es kaum sportliche und kulturelle Angebote für die fast drei Millionen Bewohnerinnen und Bewohner. Mit Unterstützung der GIZ wurde das bestehende Zentrum renoviert und auf Familien ausgerichtet. „Zuvor war alles in einem schlechten Zustand“, erinnert sich Tarek Ibrahim, Direktor des Zentrums: „Kein Vergleich zu heute.“ Inzwischen ist das Boulaq El-Dakrour-Zentrum sehr beliebt. Es ist einer der wenigen Orte, an dem es einen Fußballplatz, Fitnessräume für alle und erschwingliche Karate- und Kung-Fu-Kurse für Mädchen und Jungen gibt. Die sind gerade sehr angesagt beim Nachwuchs. Auch geschiedene Eltern schätzen das Zentrum. Hier können sie ihre Kinder an einem neutralen Ort für einige Stunden pro Woche treffen.
Vorbild für andere Jugendzentren
Tarek Ibrahim ist vor allem auf das breite Angebot für Frauen stolz: „Wir haben zum Beispiel ein Fitnessstudio nur für Besucherinnen mit speziellen Programmen für ältere Damen, die fit bleiben wollen.“ Für junge Mädchen gibt es Ballett-Workshops, Malstunden und Wettbewerbe für alle Kinder. Das lockt neue Besucher in das Stadtteilzentrum. Im vergangenen Jahr hat sich innerhalb von drei Monaten die Zahl der registrierten festen Mitglieder auf 800 verdoppelt. Sie zahlen einen Jahresbeitrag von umgerechnet rund sechs Euro und monatliche Kursgebühren etwa für Kickboxen von 9 Euro. Dadurch er erhält das Zentrum zusätzlich zur staatlichen Grundfinanzierung ein Extra-Einkommen, das die Qualität der Dienstleistungen sichert. Das Zentrum von Boulaq El-Dakrour gilt inzwischen als Vorbild: „Leiter anderer Stadtteilzentren interessieren sich dafür und wollen uns nacheifern“, sagt Tarek Ibrahim.
Warten auf das Ende der Pandemie
Gebremst wird der Aufbruch derzeit allerdings durch die Coronapandemie. Die Stadtteilzentren wurden zunächst für mehrere Wochen geschlossen und alle Aktivitäten verschoben. Mitgliedsbeiträge mussten zurückgezahlt werden, mit massiven Auswirkungen auf das Einkommen der festen Mitarbeitenden. Einige musste sich andere Jobs suchen. Mitte Juli hatte die ägyptische Regierung die Teilöffnung der Clubs und Jugendzentren mit Auflagen erlaubt. Doch Sport und Treffen sind nur mit Einschränkungen möglich. Viele Ägypter ziehen es zudem vor, Zuhause zu warten, bis die Pandemiewelle vorüber ist. Hier wie anderswo hoffen alle, bald wieder in ihr Alltagsleben zurückkehren können.
Kontakt: François Menguelé, francois.menguele@giz.de
Die Fotos zur Reportage wurde noch vor der Coronapandemie aufgenommen.