Reportage Menschliche Sicherheit
Eine Frage des Vertrauens
Jedes Mal, wenn der weiße Transporter in eine Dorfstraße einbiegt, kommt am Straßenrand Bewegung auf. Jugendliche, unterwegs zur Schule, recken den Hals und stoßen sich an. Kinder zeigen mit den Fingern auf das Fahrzeug und rufen ihren Müttern etwas zu. Unterwegs in einer ländlichen Region im Süden von Bethlehem wird schnell klar: Hier ist der Anblick eines palästinensischen Polizeiwagens etwas Besonderes.
Am Morgen hatte Zahra Sukkar ihre Einheit im Polizeihauptquartier von Bethlehem versammelt, sieben Männer und mit ihr zwei Frauen gehören dazu. Die Palästinenserin ist Kommandeurin der mobilen Polizeiwache im Distrikt Bethlehem. Inzwischen gibt es je eine in den elf Distrikten des Westjordanlands mit seinen knapp drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Die mobilen Wachen sind ein Beispiel für die Arbeit der GIZ im Auftrag des Auswärtigen Amts in den Palästinensischen Gebieten. Ziel ist, dort Polizeistrukturen und rechtsstaatliche Prinzipien zu stärken.
„Yallah – los geht’s“, sagt Sukkar. Zusammen mit den Verkehrsbeamten, dem Drogen- und dem Cybercrime-Experten sowie dem Umweltfachmann fährt sie los in die Kleinstadt Beit Fajjar ganz im Süden des Bezirks. Kommandeurin Sukkar hat inzwischen die Erlaubnis der israelischen Behörden in Händen. Ohne dieses Papier darf sie nicht durch die sogenannten C-Gebiete fahren, denn in diesen Bereichen hat die Palästinensische Autonomiebehörde keinerlei Befugnisse.
Alle steigen in den großen Wagen mit den blauen Streifen, der an einen Camper erinnert. Das ist so gewollt. Polizist*innen und GIZ-Fachleute haben das Gefährt entworfen. Die Fenster sind nicht vergittert wie bei anderen Polizeiautos. Innen ist ein Tisch mit Bänken eingebaut, an der Außenseite eine Markise angebracht, damit im Freien Sitzplätze aufgebaut werden können. So verwandelt sich der Wagen in den Dörfern in eine offene, einladende Mini-Station. Das soll zeigen: „Willkommen, wir sind für euch da!“ Damit soll für mehr Miteinander und Vertrauen geworben werden.
Die palästinensische Polizei kämpft mit dem Ruf, wenig für die Bürger*innen zu tun und in entlegenen Gebieten nicht ausreichend präsent zu sein. Was auch der politischen Situation geschuldet ist. Die Westbank erinnert mit seinen verstreuten Gebieten an einen Archipel. Nur 18 Prozent der Fläche (A-Gebiete) kontrollieren die Palästinenser. Wenn sich in den anderen Gebieten ein Verbrechen oder ein Autounfall ereignet, muss die palästinensische Polizei erst bei den israelischen Behörden um Erlaubnis fragen – „koordinieren“ heißt das offiziell –, ehe sie zum Einsatz starten kann. Das kann manchmal Stunden dauern. Eine Erlaubnis ist auch nötig, wenn sie nur auf einer C-Gebietsstraße fahren muss, um ins A-Gebiet zu gelangen. Deshalb will die Polizei ihre Präsenz in der Fläche ausbauen.
DAS ABC DER WESTBANK
Infolge des Interimsabkommens „Oslo II“ von 1995 wurde die Westbank unterteilt:
A-Gebiete: Rund 18 Prozent der Westbank. Größere Städte wie Ramallah und Bethlehem wurden unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde gestellt. Hier lebt die Bevölkerungsmehrheit (etwa 50 Prozent der rund drei Millionen Menschen). Die Zugänge kontrolliert die israelische Armee.B-Gebiete: 20 Prozent der Westbank, vor allem ländliche Gemeinden. Über sie haben die Palästinenser die administrative und Israel die Sicherheitskontrolle.
C-Gebiete: 62 Prozent der Westbank, vor allem dünn besiedelte Landstriche, palästinensische Dörfer und israelische Siedlungen. Vollständig unter israelischer Kontrolle. Hier leben rund 300.000 Palästinenser*innen und rund 400.000 israelische Siedler*innen.
Quelle: UN/OCHA oPt
Bürgernähe und Know-how
„Wir wollen die Menschen in entlegenen Gebieten besser erreichen und verfolgen den für uns neuen bürgernahen Ansatz“, betont der Polizeichef in der Westbank, Major General Hazem Atallah. „Dabei sind die mobilen Wachen eine große Hilfe. So kommen wir an Orte, wo wir vorher nicht waren.“ In der Vergangenheit fehlten dafür Ausstattung und Know-how. Bei der Nahost-Konferenz 2008 in Berlin waren diese Mängel deutlich geworden, und die Bundesrepublik hatte Unterstützung zugesagt. Und in den vergangenen zehn Jahren hat sich einiges getan. Das jüngste Ergebnis sind die mobilen Polizeiwachen. Zuvor wurde eine Modell-Polizeistation entworfen und gebaut: übersichtlich, alle Räume hell mit Fenstern, ohne Keller oder andere uneinsehbare Bereiche. Nach dieser Blaupause folgten elf weitere neue Stationen. In der Polizeifachschule in Jericho wurde zudem eine Simulationswache errichtet – ohne Decke, damit die Ausbilder*innen die Fortschritte der Polizeischüler*innen von oben beurteilen können, ohne zu stören. Die Schule arbeitet mit der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster zusammen, um internationale Standards bei der Polizeiausbildung zu sichern.
Zahra Sukkar ist eine von rund 1.400 palästinensischen Polizeibeamt*innen, die sich bisher in Kursen und Trainings der GIZ weiterqualifiziert haben. Die Mittvierzigerin, die als junge Frau bei der Polizei angefangen hat, gehört inzwischen im Rang eines Oberstleutnants zur mittleren Managementebene. Ihre Karriere ist in der traditionellen palästinensischen Gesellschaft ungewöhnlich. Ihr Vater, selbst Analphabet, hatte sie vor 20 Jahren ermutigt. „Er glaubte an Recht und Gesetz und eine Zukunft mit einem eigenen Staat“, erinnert sich Sukkar. Sie ist eine Frau, die Lebensfreude ausstrahlt und natürliche Autorität. Dennoch war es anfangs nicht einfach für sie, den Männern in ihrer Einheit klarzumachen, dass sie der Boss ist. „Wir sind eine Gesellschaft, in der eher die Männer den Frauen Anordnungen geben“, sagt sie. „Aber gute Kommunikation ist alles und manchmal setze ich auf Kompromisse und gehe milde mit den Kollegen um“, meint sie lachend.
Die mobile Polizeiwache hat an der weiterführenden Schule für Mädchen von Beit Fajjar halt gemacht. In der Aula warten 70 Teenager auf Sukkar und den Drogenexperten der Einheit. Er ist in Zivil gekommen, das baut Distanz ab, schafft mehr Nähe. Während er mit den jungen Frauen über die Gefahren von Drogen spricht, trifft Zahra Sukkar die Schulleiterin. Die mobile Einheit ist zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres an der Schule. Die Direktorin zeigt der Polizistin ein Fax des Innenministeriums aus Ramallah. Es ging an alle Schulen im Bezirk und nennt die Kontaktdaten der mobilen Einheit und von Zahra Sukkar. „Das ist super“, sagt sie. Denn sie will mit ihrem Team auf lange Sicht Ansprechpartnerin sein, bevor etwas passiert – gerade für Jugendliche.
Zeichen der Veränderung
Junge Menschen und Frauen sind besonders von häuslicher Gewalt, Cyberkriminalität oder Drogenmissbrauch betroffen, berichtet Wafa Muamar. Sie ist Oberst und leitet die Einheit für Familien- und Jugendschutz der palästinensischen Polizei in Ramallah. Seit zehn Jahren gibt es diese Einheit in der Westbank. Mit drei Beamten fing sie an. Jetzt sind sie 112, davon 40 Prozent Frauen. „Wir sind noch eine konservative Gesellschaft, in der es üblich ist, Probleme in der Familie zu belassen. Außerdem sind viele unserer Gesetze veraltet“, beschreibt sie die Herausforderungen. Gleichzeitig scheint etwas in Bewegung geraten zu sein. Zu jeder mobilen Polizeiwache gehört inzwischen auch eine Expertin ihrer Polizeieinheit, die sich um die Fälle häuslicher Gewalt kümmert. Insgesamt werden mehr dieser Verbrechen gemeldet. Das Bewusstsein scheint sich zu ändern. Zuletzt hatte die Tötung einer jungen Frau durch männliche Familienmitglieder für öffentliche Proteste in größeren palästinensischen Städten gesorgt. Die 21-Jährige hatte ein Video mit ihrem künftigen Verlobten in den sozialen Medien hochgeladen. Dass sie sich vor der Verlobung so gezeigt hatte, soll die Gewalttat ausgelöst haben.
„Prävention ist ein wichtiges Ziel unserer Arbeit und es geht uns darum, bei den Menschen Vertrauen aufzubauen, damit sie sich auch bei Problemen an uns wenden“, sagt Polizistin Sukkar. Inzwischen ist die mobile Wache bei einer Grundschule angekommen. Hier werden Schülerlotsinnen ausgebildet. In ihren gelben Warnwesten hören sie den Verkehrspolizisten aufmerksam zu. Sie üben gemeinsam, den Straßenverkehr zu regeln und Autorität zu entwickeln. Die Stimmung ist gelöst, alle lachen miteinander und nach einer Weile wirken die Kinder gar nicht mehr aufgeregt in der Gesellschaft der Beamten. Selbstbewusst halten die Mädchen das rote Schild mit der weißen Hand hoch: Stopp!
INTERVIEW
JOACHIM VON BONIN
Leiter des Programms zur Stärkung der Polizeistrukturen
in den Palästinensischen Gebieten
Wie schaffen Sie es, in den Palästinensischen Gebieten Ihren inneren Kompass zu behalten, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden?
Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt – besonders auch als Deutscher. Für mich als GIZ-Mitarbeiter sind die politischen Vorgaben der Bundesregierung richtungsweisend. Und das ist weiterhin die Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung mit der Vision eines lebensfähigen palästinensischen Staates und einem israelischen Staat, die beide in Sicherheit und Frieden koexistieren. Das sind die inhaltlichen Leitplanken unseres Handelns im Polizeiprogramm. Als verantwortlicher Leiter orientiere ich mich an den im Grundgesetz verankerten Werten, verbunden mit der UN-Menschenrechtskonvention. Gerade in diesem Bereich gibt es Herausforderungen in den Palästinensischen Gebieten. Dazu sind wir mit unseren palästinensischen Partnern in einem vertrauensvollen, kritischen Dialog.
Was sind die Erfolgsfaktoren bei der Zusammenarbeit?
Der erste Erfolgsfaktor in einer so schwierigen, volatilen Situation ist ein langer Atem. Ich war vor knapp zehn Jahren daran beteiligt, die erste Phase des Polizeiprogramms anzustoßen, und seitdem haben meine Vorgänger als Programmleiter eine unglaublich erfolgreiche Arbeit geleistet. Aufgrund dieser Kontinuität sind wir in der Polizeikooperation heute ein sehr geschätzter Partner. Zweitens ist in dieser Zeit ein belastbares Vertrauensverhältnis entstanden und man kann auch schwierige Dinge ansprechen und partnerschaftlich bearbeiten. Und das letzte Element, was mir sehr auffällt in den Palästinensischen Gebieten, ist eine unglaublich motivierte, hoch qualifizierte nationale Mitarbeiterschaft. Sie bildet das Rückgrat unserer Arbeit.
Wie sehen Sie die Zukunft der Region?
Bei der politischen Bearbeitung des Nahost-Konflikts gibt es erhebliche Herausforderungen und wenn man vor Ort ist, merkt man schnell: Eine offensichtliche, gerechte und einfach umzusetzende Lösung wird es so schnell nicht geben. Aber ich bin ein zuversichtlicher Mensch und konzentriere mich auf die kleinen Schritte: Die ganz konkrete Sicherheit der Menschen in der Westbank zu verbessen, macht in jeden Fall Sinn. Vielleicht trägt es ja zur Lösung der ganz großen Fragen ein bisschen bei. Und in dieser Region mit ihren wunderbaren Menschen und der Vielfalt an Kulturen und Religionen leben und arbeiten zu dürfen, ist ein großes Geschenk an sich.
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