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UNDP Administrator Achim Steiner in Ukraine. Andriy Krepkykh/UNDP Ukraine
Interview

„Die SDGs sind der beste Weg, um eine apokalyptische Zukunft abzuwenden“

Die Weltlage ist unübersichtlich, geopolitische Spannungen nehmen zu. Haben die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) noch Bestand? Achim Steiner hält sie für relevanter denn je. Im Interview erklärt der Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, warum.

Interview: Friederike Bauer

Herr Steiner, das Erreichen der SDGs scheint angesichts der weltpolitischen Gesamtlage in weite Ferne zu rücken. Was muss geschehen, damit sich das ändert?

Im Herbst 2024 stehen wichtige Treffen auf der internationalen Agenda: Es beginnt mit einem Zukunftsgipfel in New York, wenig später folgen eine Nachhaltigkeitskonferenz in Hamburg, eine Biodiversitätskonferenz in Cali und schließlich der jährliche Klimagipfel in Baku. Wir stehen vor einem Nachhaltigkeitsherbst, bei dem wir Fortschritte erzielen können. Aber in der Tat ist die Bilanz der SDGs im globalen Kontext sehr ernüchternd.

Was meinen Sie mit globalem Kontext?

Zählt man das bisher Erreichte zusammen und teilt es durch 193, die Zahl der UN-Mitgliedstaaten, dann ist das Ergebnis auf keinen Fall zufriedenstellend. Aber bei dieser globalen Bilanz übersehen wir Details. Wir erleben derzeit große Unterschiede und in manchen Bereichen auch erstaunliche Durchbrüche. Nehmen wir das Beispiel erneuerbare Energien: Es gibt Länder, bei denen hat sich fast gar nichts getan; in anderen, wie Uruguay oder Kenia, laufen inzwischen mehr als 90 Prozent der Stromerzeugung über regenerative Energien. Ein weiteres Beispiel: Heute haben 5,4 Milliarden Menschen einen Internetzugang – das sind mehr, als Anfang der Neunzigerjahre überhaupt auf der Welt lebten. Auch das ist eine rasante Entwicklung, die wir noch vor zehn Jahren nicht hätten vorhersagen können.

Kaschiert das nicht Defizite?

Ich möchte solche Vergleiche auf keinen Fall zum Vorwand für Schönfärberei nehmen. Trotzdem sollten wir auch nicht ins umgekehrte Extrem verfallen. Denn es gibt Fortschritte, vor allem auf Ebene der Einzelstaaten, die zeigen: Es hängt sehr vom Willen und den Möglichkeiten der jeweiligen Länder ab.

Bei welchen SDGs liegen wir am meisten zurück?

Derzeit gibt es vor allem Rückschläge bei den Investitionen, die Lebensqualität ausmachen: Nahrungsmittelunsicherheit und Hunger nehmen wieder zu, Bildungsniveaus stagnieren, Gesundheitswesen erhalten nicht die Mittel, die sie bräuchten, um eine Grundversorgung zu gewährleisten. Dazu kommt der Klimawandel, den zwar die meisten Menschen als Herausforderung akzeptiert haben, aber die Geschwindigkeit der Transformation genügt nicht.

Woran liegt das: mangelndes Bewusstsein, Konflikte oder andere Prioritäten?

Hier ist ein Bündel an Ursachen am Werk: Die Corona-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen, kombiniert mit weiteren Faktoren, zu denen natürlich Konflikte zählen. Aber auch die Inflation, verbunden mit hohen Zinsen und einer enormen Schuldenlast, macht vor allem den ärmsten Ländern schwer zu schaffen. Da bleibt wenig Spielraum für Investitionen in Bildung oder Gesundheit. Und all dies führt zu Unsicherheit über die Zukunft und einer zunehmenden Polarisierung in vielen Ländern.

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Achim Steiner UNDP/Michael Atwood

Achim Steiner ist seit 2017 Leiter des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP). Er hat in Afrika, Asien, dem Nahen Osten, Europa, Lateinamerika und den Vereinigten Staaten gelebt und gearbeitet.

„Die UN wurden nicht geschaffen, um die Welt bei Sonnenschein an einem Tisch zu versammeln, sondern sie müssen vor allem dann aktiv werden, wenn es dringend ist, miteinander Probleme zu lösen.“

Achim Steiner
Leiter des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP)

Bräuchten ärmere Länder nicht gerade jetzt mehr Unterstützung statt weniger?

Eigentlich schon. Es sind sehr herausfordernde Zeiten für die Entwicklungsländer, aber auch für die Geberstaaten und deren Budgets. Ob Unterstützung für die Ukraine oder Finanzierung von Flüchtlingskosten in OECD-Ländern, all das hat massive Verschiebungen nach sich gezogen und Gelder vor allem für Afrika umgeleitet. Dies in Kombination mit der Schuldenlast führt zu chronischen Unterinvestitionen bei fast allen SDGs. Ich glaube, wir machen einen großen Fehler, wenn wir glauben, dass wir mit relativ kleinen Beträgen die großen gemeinsamen Probleme unserer Zeit lösen könnten. Gerade einmal 0,37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der OECD-Länder werden dafür aufgewendet. Dabei ist die Unterstützung der Ukraine schon mitgerechnet. Die Transformation hin zu mehr wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wird nur gelingen, wenn wir miteinander und ineinander investieren.

Was erwarten Sie sich von den bevorstehenden Gipfeln in dieser schwierigen Lage?

Die UN wurden nicht geschaffen, um die Welt bei Sonnenschein an einem Tisch zu versammeln, sondern sie müssen vor allem dann aktiv werden, wenn es besonders dringend ist, miteinander Probleme zu lösen. Deshalb erhoffe ich mir im Zukunftspakt eine Bestätigung der international vereinbarten Ziele und einen Push für die verbleibenden fünf Jahre. Ein wichtiges Ergebnis des Zukunftsgipfels wird auch ein „Global Digital Compact“ sein. Dieses internationale Rahmenwerk soll Leitplanken für eine zunehmend digitale Welt definieren und diese technologische Entwicklung ordnungspolitisch begleiten.

Was versprechen Sie sich von der neuen Hamburger Nachhaltigkeitskonferenz?

Die Idee für Hamburg knüpft an die Münchner Sicherheitskonferenz an. Was diese jährlich für Sicherheitsfragen bedeutet – und welche Prominenz sie anzuziehen vermag –, soll künftig einmal jährlich in Hamburg für das Thema Nachhaltigkeit stattfinden: Menschen aus allen Winkeln der Welt, Vertreter von Staaten, aber auch der Privatwirtschaft und NGOs zusammenzubringen und damit neue Impulse zu setzen und gemeinsame Zukunftsperspektiven zu entwickeln, steckt als Gedanke dahinter. Natürlich entsteht so eine Konferenz auf diesem Niveau nicht über Nacht, sondern sie muss sich langsam aufbauen. Aber eine Plattform zu schaffen für ein Thema, das uns alle angeht und bei dem wir dringend neue Wege finden und Allianzen schmieden müssen, halte ich für eine große Chance.

Sind die SDGs angesichts der vielen Veränderungen seit ihrer Verabschiedung 2015 überhaupt noch zeitgemäß?

Die Welt hat sich seither zweifellos verändert. Aber ich würde immer umgekehrt argumentieren: Ein Teil der heutigen Probleme geht gerade darauf zurück, dass wir die SDGs nicht schneller erreicht haben. Die SDGs sind zentral, um Krisen und Konflikte zu reduzieren und Entwicklung zu ermöglichen. Dass Armut, Hunger, Ungleichheit und Klimawandel nicht zu Entspannung beitragen, liegt auf der Hand. Deshalb erachte ich die SDGs heute für noch aktueller und wichtiger als damals. Allerdings ist derzeit nicht absehbar, wie sie sich weiterentwickeln und ob Staaten sie auch nach 2030 als internationalen Rahmen erachten werden. Dieser Entwicklung kann ich nicht vorgreifen, auch wenn ich die SDGs nach wir vor für den besten Weg halte, um eine dunkle und apokalyptische Zukunft abzuwenden. Aber klar ist auch: Die SDGs sind nicht die Ziele der Vereinten Nationen; die UN ermöglichen 193 Nationen, den Rahmen für gemeinsames Handeln zu vereinbaren, umsetzen müssen wir sie alle – jedes Land, jede Gemeinde, jede Schule, jeder Haushalt und auch jeder Einzelne.

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