„Untätig zu bleiben, ist ein viel größeres Risiko, als in Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft zu investieren“
Ein Interview mit Doreen Bogdan-Martin, Generalsekretärin der Internationalen Fernmeldeunion (International Telecommunication Union, ITU), über Talente und wie digitale Technologien helfen können, wieder Kurs auf die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) zu nehmen.
Frau Bogdan-Martin, was sind die Folgen der digitalen Kluft?
Eine unmittelbare und sehr handfeste Folge der digitalen Kluft ist, dass wir ein Drittel der Menschheit zurücklassen. Ich meine das Drittel der Menschheit, das weltweit noch offline ist. Wer sind diese Menschen? Es sind Menschen, die immer noch keinen Zugang zu einem mobilen Breitbandnetz haben. Und wenn sie Zugang haben, gehen sie nicht ins Internet, weil es zu teuer ist, weil sie nicht über die nötigen digitalen Fähigkeiten verfügen oder weil die Internetnutzung nicht sicher oder sinnvoll genug ist.
Derzeit stellt selbst ein Mobiltelefon zum Preis von 20 US-Dollar für zu viele Menschen eine erhebliche Ausgabe dar. In den am wenigsten entwickelten Ländern – wo etwa zwei Drittel der Bevölkerung immer noch offline sind – kosten diese Geräte im Verhältnis am meisten, nämlich 53 Prozent des durchschnittlichen Monatseinkommens.
Wir lassen nicht nur diese Menschen zurück. Sondern wir enthalten der Weltgemeinschaft auch all die Talente, Ressourcen und unterschiedlichen Perspektiven vor, die wir brauchen, um unsere dringlichsten Herausforderungen zu bewältigen und unser volles Innovationspotenzial auszuschöpfen.
Nun ist es schwer vorherzusagen, was genau passieren wird, wenn wir nicht sofort Maßnahmen ergreifen, um die digitale Kluft zu überwinden.
Ein Szenario wäre, dass wir die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung nicht erreichen, wenn wir diese Kluft nicht überbrücken. Die Entwicklung gerät ins Stocken oder es gibt sogar Rückschritte; die wohlhabenderen Länder sind diejenigen, die profitieren; und immer mehr Menschen stellen den Wert der Vernetzung grundsätzlich infrage.
Aber ein ganz anderes Szenario ist auch immer noch möglich – eine Welt ohne digitale Lücken, gleich welcher Art und an welchem Ort, in der alle die digitalen Fähigkeiten haben, die sie zum Vorankommen brauchen, und wo digitale Technologien helfen, wieder Kurs auf die SDGs zu nehmen. Eins ist sicher: Untätig zu bleiben, ist ein viel größeres Risiko, als in Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft zu investieren.
Wenn wir der Vernetzung und der digitalen Infrastruktur in unterversorgten und ausgegrenzten Gemeinschaften Vorrang geben, können wir wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen fördern.
Welche weiteren Auswirkungen sehen Sie?
Es gibt viele Folgen. Menschen auf der falschen Seite der Kluft können möglicherweise nicht auf digitale Bildungsangebote zugreifen, die sie brauchen, um in einer zunehmend digitalen Welt voranzukommen. Während der Pandemie waren Lernende ohne zuverlässigen Internetzugang gegenüber ihren vernetzten Mitschüler*innen im Nachteil. Mindestens eine halbe Milliarde Schülerinnen und Schüler, darunter 72 Prozent der Ärmsten, konnten nicht am Distanzunterricht teilnehmen – viele verfügten überdies nicht über die für eine hochwertige Ausbildung erforderlichen Geräte oder Netzverbindungen.
Später bei der Arbeitsplatzsuche gibt es in jeder Branche, in jedem Beruf und in jedem Land eine starke Nachfrage nach digitalen Kenntnissen und Fähigkeiten. Allein in Subsahara-Afrika werden bis 2030 für mehr als 200 Millionen Arbeitsplätze digitale Fähigkeiten nötig sein.
Zahllose Behördendienste wurden ebenfalls ins Internet verlagert. Deshalb wird es gerade für diejenigen, die es am nötigsten brauchen, immer schwieriger, Unterstützung zu beantragen oder Zugang zu wichtigen Leistungen wie Arbeitslosenhilfe und Gesundheitsfürsorge zu erhalten.
Inwieweit hilft es, bei der Digitalisierung den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen?
Die Technologie muss für die Menschen arbeiten, darum müssen wir die digitale Entwicklung vor allem am Menschen ausrichten. Künstliche Intelligenz (KI) ist ein gutes Beispiel dafür. Da solche Systeme in Produkte und Dienstleistungen einfließen, die von Millionen von Menschen genutzt werden, ist es ungeheuer wichtig, menschliche Werte in den Vordergrund zu stellen.
Deshalb muss der Mensch bei der Entwicklung von KI im Mittelpunkt stehen – und deshalb müssen wir gemeinsam menschenorientierte digitale Strategien und Regeln entwickeln, um die Privatsphäre zu schützen, Datensicherheit zu gewährleisten und die ethische Nutzung von Technologie zu fördern.
Der Mensch steht im Mittelpunkt der SDGs. Wie UN-Generalsekretär António Guterres Anfang des Jahres sagte, müssen wir diese Ziele im Leben der Menschen überall verwirklichen. Wir brauchen menschlichen Einfallsreichtum und Kreativität, um alle digitalen Möglichkeiten zu nutzen und dierealen Herausforderungen der einzelnen SDGs so anzugehen, dass das Leben und die Lebensgrundlagen der Menschen messbar verbessert werden.
Sehen Sie noch weitere Vorteile?
Wenn man Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung stellt, beginnt man auch, sie inklusiver zu gestalten. Wenn wir der Vernetzung und der digitalen Infrastruktur in unterversorgten und ausgegrenzten Gemeinschaften Vorrang geben, können wir wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen fördern.
Durch den Fokus auf den menschlichen Aspekt der Digitalisierung können wir auch Menschen die Fähigkeiten und Kenntnisse vermitteln, die sie brauchen, um voll an der digitalen Wirtschaft teilzuhaben. Dazu gehören nicht nur technische digitale Fertigkeiten, sondern auch kritisches Denken und die Fähigkeit zur Problemlösung – alles unerlässlich für das Zurechtfinden in unserer zunehmend komplexen digitalen Welt.
Wie können wir eine KI schaffen, die nicht diskriminierend ist und allen zugutekommt, auch den Menschen, die noch offline sind?
Wir müssen der Welt zeigen – und nicht nur darüber reden –, was eine inklusive, sichere und verantwortungsvolle KI für die Menschheit leisten kann. Und wir dürfen auch nicht ein Drittel der Menschheit von den Diskussionen ausschließen, die unsere gemeinsame digitale Zukunft bestimmen.
Die ITU setzt sich zwar vor allem dafür ein, dass die Milliarden Menschen, die weltweit noch offline sind, Zugang zum Netz bekommen. Wir setzen uns aber auch dafür ein, dass KI allen und überall Nutzen bringt. Deshalb konzentriert sich die ITU darauf, Standards zu entwickeln und Fähigkeiten zu fördern, um die verantwortungsvolle Entwicklung und Verwendung von KI zu unterstützen – und eine enge Zusammenarbeit mit allen Beteiligten und Betroffenen voranzubringen. Einschließlich der Länder, die noch weitgehend offline sind.
Viele Durchbrüche in der KI betreffen sehr punktuell Branchen und Themen, die in erster Linie den Industrieländern nützen. Gemeinsam mit UN-Partnern arbeitet die ITU auf eine diskriminierungsfreie KI hin, indem sie in ihre Angebote zur digitalen Transformation auch KI-Kapazitätsunterstützung einbaut und in wichtigen Feldern wie intelligenter Mobilität, intelligenten Städten und allgemeiner Gesundheitsversorgung sektorbezogene Vorarbeiten für KI übernimmt.
Wenn wir in Forschung und Innovation in Bereichen wie Landwirtschaft, Gesundheitswesen und Katastrophenmanagement investieren, sorgen wir dafür, dass KI den Bedürfnissen aller Menschen dient, auch denen der Schwächsten und am meisten Gefährdeten. Nichts ist wichtiger, als dass Länder mit geringen technologischen Fähigkeiten die Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Wo sehen Sie die größten Chancen der digitalen Technologie, insbesondere im Kampf gegen Hunger und Klimawandel?
Die Digitalisierung wird 47-mal in der Sonderausgabe des Berichts über die Ziele für nachhaltige Entwicklung 2023 erwähnt, die im Juli veröffentlicht wurde. Die große Herausforderung besteht darin, dass nur 15 Prozent der SDG-Ziele zur Halbzeit der Agenda 2030 im Soll sind.
Letztes Jahr haben die Mitgliedstaaten der ITU die allgemeine Netzanbindung und die nachhaltige digitale Transformation zu unseren beiden strategischen Zielen für die Zukunft erklärt. In den nächsten Monaten haben wir die Gelegenheit, an beiden Fronten Fortschritte zu erzielen.
Am 17. September wird die ITU zusammen mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und unseren Partnern „SDG Digital“ einberufen: eine Konferenz, bei der Daten und digitale Technologien im Mittelpunkt der Anstrengungen stehen, die SDGs doch noch zu erreichen. Es werden bewährte und flexibel anpassbare Lösungen vorgestellt werden, welche die Digitalisierung für jedes Nachhaltigkeitsziel nutzen.
Nehmen wir das Nachhaltigkeitsziel 2 – die Schaffung einer Welt ohne Hunger. Digitale Technologien können dabei helfen, landwirtschaftliche Techniken und Maßnahmen zu optimieren: etwa den Gesundheitszustand von Pflanzen überwachen und Erträge vorhersagen, um Ressourcen so effizienter zu nutzen und weniger zu verschwenden, und Bäuerinnen und Bauern fundierte Entscheidungen über Bewässerung, Düngung und Schädlingsbekämpfung ermöglichen.
Digitale Technologien sind auch unerlässlich, um die Auswirkungen des Klimawandels zu modellieren und vorherzusagen. Erdbeobachtungssatelliten liefern Echtzeit-Wetterdaten zur Prognose und Überwachung von Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Waldbränden und ermöglichen so einen effizienteren Katastrophenschutz.
Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, die SDGs wieder auf Kurs zu bringen.
Wie kann die digitale Technologie die Gleichstellung der Geschlechter fördern und wo ist sie eher ein Hindernis?
Im Jahr 2023 jährt sich die erste ITU-Resolution zum Thema Gleichstellung zum 25. Mal: Zeit für eine Bilanz über das, was wir erreicht haben, aber auch über die viele Arbeit, die noch zu tun ist. Denn der Anteil von Frauen an der weltweiten Offline-Bevölkerung ist nach wie vor unverhältnismäßig hoch und wächst weiter: Er übersteigt die Zahl der männlichen Nichtnutzer digitaler Technologie um 18 Prozent.
Bei der digitalen Lücke zwischen den Geschlechtern geht es nicht nur um den Zugang, sondern auch um Fähigkeiten und die technologische Führerschaft. Das kann zu einem Hindernis werden, weil sich Geschlechterungleichheit auf alle Bereiche auswirkt und oft zu mangelhaftem Produktdesign oder fehlgeleiteten Dienstleistungen, zu algorithmischen Verzerrungen und ausgrenzender Entscheidungsfindung führt.
Ein Schlüssel, um die digitale Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, sind inklusive Partnerschaften. Solche Partnerschaften zur Entwicklung digitaler Fähigkeiten auf allen Ebenen sind eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, so viele Frauen und Mädchen wie möglich zu erreichen. Initiativen wie „EQUALS“, „Women in Cyber“ und „Girls in ICT Day“ sind drei Beispiele dafür, wie wir daran arbeiten, die digitale Geschlechterkluft weltweit zu schließen.
Alle drei Partnerprogramme zielen darauf ab, Frauen und Mädchen zu motivieren, inspirieren und dabei zu betreuen, in den Bereichen Mathematik, Ingenieurwesen, Wissenschaft und Technologie ein eigenes Unternehmen zu gründen oder eine Berufslaufbahn einzuschlagen – und wir müssen Mädchen schon in jungen Jahren dafür begeistern.
Wir brauchen auch mehr Frauen in Führungspositionen im digitalen Bereich, vor allem in Regierungen, wo der Anteil der Ministerinnen in den Ressorts für Informations- und Kommunikationspolitik weltweit bei nur 16 Prozent liegt.
Aus diesem Grund habe ich gemeinsam mit der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Svenja Schulze, auf der 67. Tagung der UN-Kommission für die Rechtsstellung der Frau im März in New York das „Netzwerk von Digitalministerinnen“ ins Leben gerufen.
Wir wollen dafür sorgen, dass Frauen nicht nur mit am Tisch sitzen, sondern sich auch aktiv an wichtigen Entscheidungen und politischen Prozessen auf internationaler Ebene beteiligen.