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Ein lächelnder Mann in einem hellen Sakko und blauen Hemd steht vor einem modernen Bürogebäude mit Glasfassade. Marina Weigl
Porträt

Ein Anwalt für Inklusion

Wie es einen blinden Juristen aus Äthiopien zur GIZ in Bonn verschlug und warum er sich hier sehr wohlfühlt.

Text: Friederike Bauer Fotos: Marina Weigl

Eigentlich wollte Deginet Doyiso Geschichtslehrer werden und jungen Menschen etwas beibringen. Stattdessen studierte er Jura und wurde Staatsanwalt. Das an sich wäre nichts Ungewöhnliches; Pläne ändern sich. Aber dass er eines Tages in Deutschland wohnen und für die GIZ den Global Disability Summit in Berlin mit vorbereiten würde, damit konnte er nun wirklich nicht rechnen.

Denn Doyiso kommt aus einem kleinen Dorf im Süden Äthiopiens. Seine Eltern waren Bauern, hatten mit ihm acht eigene Kinder und vier weitere aus der ersten Ehe seines Vaters großzuziehen. Das Leben war entbehrungsreich und hart. Entsprechend halfen die Kinder bei der Feldarbeit, sobald sie konnten.

Nicht so Deginet. Er hatte sich mit zwei Jahren eine Augeninfektion zugezogen und infolgedessen sein Augenlicht verloren. Er war fortan blind – und konnte deshalb nicht mitarbeiten auf der Farm. Nach längerem Hin und Her kam er schließlich mit sechs Jahren in ein Internat für Blinde, weit weg von der Familie. Dort blieb er jeweils zehn Monate, bevor er für die Sommerferien wieder nach Hause fuhr.

Deginet genoss das Internat; er lernte die Brailleschrift kennen, lernte damit lesen und schreiben und verbrachte seine Zeit mit Schulkamerad*innen und allen möglichen Dingen, die Kinder in dem Alter so machen: rennen, spielen, singen. „Ich hatte großes Glück, auf dieses Internat zu kommen“, sagt Doyiso rückblickend. Die Schule – einst gegründet von katholischen Missionaren – war eine sichere kleine Welt für sich, fernab der Sehenden. Er vermisste die Familie, aber ansonsten fehlte es ihm an nichts.

Ausgezeichnetes Abitur, Umzug in die Hauptstadt

Nach sechs Jahren endete das Internat, er kam zurück in seine alte Region, wohnte wieder bei seiner Familie und besuchte dort das Gymnasium, weiterhin unterstützt mit Materialien seines ehemaligen Internats, denn die heimatliche Schule war auf Blinde nicht eingestellt. Mit diesen Hilfsmitteln und seinem ungebremsten Lerneifer machte er ein ausgezeichnetes Abitur, das ihn zu einem Universitätsbesuch und einem Stipendium befähigte. Er zog nach Addis Abeba und schrieb sich in der Rechtsfakultät ein. Viel Auswahl hatte er nicht, weil die meisten Fächer für blinde Studierende nicht zugänglich waren. Aber Jura, diese „Sprachwissenschaft“, wie Doyiso sie nennt, das ging. Die zunehmende Digitalisierung half ihm dabei. Elektronisch verfügbare Texte kann er mit entsprechenden Tools lesen. „Bei normalen Büchern wird es schwierig.“ Die muss er scannen.

So wühlte er sich durch das Jurastudium, schloss auch das mit Prädikat ab, kehrte zurück in seine Heimatgegend und wurde Bezirksstaatsanwalt. „Für einen Blinden, von dem man annahm, er könne nicht viel zum Gemeinwohl beitragen, kam dieser Posten einer Märchengeschichte gleich.“ Die Aufgabe versah er einige Jahre, doch dann genügte ihm das Erreichte nicht mehr. Die Beeinträchtigung hatte früh seine Wissbegierde geweckt und ihn gelehrt, Lernen und Bildung ernst zu nehmen: Er wollte weitermachen – und strebte eine Dissertation an.

Dafür bewarb er sich mit einem Forschungsvorhaben an allen möglichen Fakultäten im In- und Ausland, auch bei einem Professor an der Universität zu Köln, der ihn schließlich als Promotionsstudent annahm. Es ging um Linguistik und Recht, später wurde daraus eine vergleichende Doktorarbeit der Rechtssysteme in der EU und in Äthiopien. Ein Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes gab ihm den nötigen finanziellen Rückhalt dafür. Seine Frau, die er während seiner Zeit als Bezirksstaatsanwalt geheiratet hatte, und seine zwei Söhne kamen mit. „Die ganze Familie wechselte den Ort, das Land, den Kontinent.“ Das war im Jahr 2019.

Als Blinder in der Fremde

Ein Abenteuer für jeden, für Deginet Doyiso erst recht. Sich als Blinder in einer völlig fremden Umgebung, am Anfang ohne Sprachkenntnisse und ohne ein größeres soziales Netz, zurechtzufinden, war nicht einfach. „Ohne meine nicht blinde Frau wäre das kaum möglich gewesen.“ Sie unterstützte ihn vor allem in der ersten Zeit sehr und begleitete ihn auch zur Universität. Später lernte er durch Sicherheits- und Orientierungstrainings, allein den Weg dorthin zu finden. Auch zur GIZ in Bonn kommt er von Köln aus ohne Hilfe.

Bei ihr landete er zufällig, wie sich überhaupt vieles in Deginet Doyisos Leben einfach so ergab. Freilich untermauert durch stetiges Lernen und harte Arbeit, aber irgendwie schien einem Schritt immer vollkommen logisch der nächste zu folgen: Während er auf das Ergebnis seiner Dissertation wartete, schickte ihm jemand einen Link mit einer Stellenausschreibung für ein Praktikum bei der GIZ zu, im Globalvorhaben Inklusion. „Warum nicht die Zeit sinnvoll überbrücken?“, räsonierte Doyiso seinerzeit und bewarb sich.

Schon das Bewerbungsverfahren hinterließ einen guten Eindruck, denn die entsprechenden Internetseiten waren barrierefrei, auch für ihn leicht zugänglich und handhabbar. „Die GIZ schien mir von Anfang an ein inklusives Unternehmen zu sein; das gefiel mir.“ Er bekam die Stelle als Praktikant, ab Sommer 2023 dann im selben Team eine als Berater. Seither beteiligt sich der heute 41-Jährige unter anderem an den Vorbereitungen für den Inklusionsgipfel in Berlin. „Das passt natürlich sehr gut.“ Er wird hinfahren, hat für Reisen und auch sonst inzwischen vom Integrationsamt der Stadt Köln einen Begleiter zugesprochen bekommen, der ihm dabei hilft, alltägliche Herausforderungen zu meistern – von der Mobilität bis zum Geldabheben. Auf diese Weise hat er letzthin auch an regionalen Vorbereitungskonferenzen in Kenia und Thailand teilgenommen.

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Ein Mann im blauen Hemd blickt zur Seite, im Hintergrund eine große Säule und ein Fenster mit Tageslicht. Marina Weigl
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Nahaufnahme von Händen, die auf einer Braillezeile vor einem Laptop tippen. Marina Weigl

Das Ziel: alle mitnehmen

Vom Gipfel erhofft sich Doyiso, dass das Thema Inklusion zusätzliche Aufmerksamkeit erhält und weiter auf der internationalen Agenda bleibt. Für ihn ist Inklusion ein Menschenrecht, aber auch ein Entwicklungsthema. „Wie soll man die SDGs verwirklichen, ohne 16 Prozent der Weltbevölkerung einzubeziehen?“ So hoch ist der geschätzte Anteil an Menschen mit Behinderungen weltweit.

Deshalb würde er gerne bei der GIZ weitermachen, „vielleicht eines Tages auch in Äthiopien“, weil er hier dazu beitragen kann, dass getreu dem Motto der SDGs „niemand zurückbleibt“. Für ihn ist klar: Inklusion ist ein Prozess – auch in der GIZ –, bei dem es darum geht, Dinge stetig weiter zu verbessern. „Die besten Lösungen kommen vermutlich immer von denjenigen, die der Herausforderung am nächsten stehen“, sagt Deginet Doyiso zum Thema Inklusion – und beschreibt damit zugleich so viel mehr.

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