Vergangenheitsbewältigung
Frieden leben
Eine Schule, deren Rektorat in einem Baumhaus untergebracht ist, ist keine Durchschnittsschule. Und eine Rektorin, die Friedenserziehung zu einem Hauptziel der Ausbildung erklärt, betritt in Kolumbien Neuland. „Frieden kann man nicht lernen. Frieden muss man leben und das tun wir hier“, erklärt Ana Beatriz Rintá. Sie ist seit mehr als zehn Jahren Leiterin der Schule Puente Amarillo bei Villavicencio, rund 70 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Bogotá. Die Klassenräume stehen auf einem weitläufigen, grünen Schulgelände wie kleine Bungalows in einem Urwald.
Dieser friedvolle, beschauliche Eindruck bildet einen starken Kontrast zu der Geschichte der Provinz, in der die Schule liegt: Allein im Departamento Meta mit seinen 800.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind in den 50 Jahren des bewaffneten Konflikts rund 300.000 Menschen Opfer der Gewalt geworden. Vor allem in diesen ländlichen Regionen, wo der Staat wenig präsent war, bekämpften sich rechte Paramilitärs und linke Guerilleros. Landesweit hat die kolumbianische Regierung bis heute neun Millionen Opfer der gewaltsamen Auseinandersetzungen registriert – bei einer Einwohnerzahl von 49 Millionen. Mit dem Friedensvertrag, der Ende 2016 nach langen Verhandlungen zwischen der Regierung Kolumbiens und der größten Guerillagruppe FARC in Kraft trat, war viel Hoffnung verbunden. Doch von Stabilität ist das Land noch entfernt. Politische Morde, Anschläge und illegale Strukturen bedrohen den Friedenskurs. Für Schulleiterin Rintá gibt es dennoch keine Alternative zu dem eingeschlagenen Weg. „Wir wollen ein friedliches Kolumbien“, sagt die 58-Jährige. „Es wäre verrückt, weiterzumachen wie bisher – und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Die nächsten Generationen müssen anders aufwachsen.“
Mit diesem Anspruch arbeitet ihr Kollegium. Am Rande eines kleinen Feuchtgebiets beobachten die Schülerinnen und Schüler Libellen. Etwas abseits von den Schulgebäuden liegt eine ruhige Leseecke mit Holzbänken zwischen Bäumen. Es gibt Workshops wie Möbelschreinern, Schwimmen, Musik, Gärtnern oder Recycling-Kunst. Vom Baumhaus der Rektorin führt neben einer Treppe auch eine Rutsche auf die Erde. „Wenn die Schüler*innen sich langweilen, hat der Lehrer verloren“, sagt Rintá. Sie will die nächste Generation begeistern – auch für den Frieden.
Eine öffentliche Schule wie Puente Amarillo, auf die Kinder aus Familien aller Einkommensklassen gehen, das gibt es in Kolumbien selten. Denn die soziale Ungleichheit im Land spiegelt sich auch im Bildungssystem wider. Staatliche Schulen sind kostenlos, haben aber keinen guten Ruf: Die Klassenräume sind oft überfüllt und das Personal ist überfordert. Das Bildungssystem ist dezentral organisiert, deshalb fehlt es in ärmeren Bezirken an der nötigen Ausstattung und Material. Wer Geld hat, schickt seine Kinder deshalb auf eine Privatschule.
Eine Toolbox unterstützt die Lehrer*innen
Puente Amarillo dagegen ist ein Vorzeigeprojekt. Regelmäßig kommen Lehrer*innen aus anderen Orten und schauen sich den Sozialkundeunterricht an. Wenn es dabei um den Umgang mit der Vergangenheit geht, können die Pädagog*innen auf eine Toolbox für Erinnerungsarbeit zurückgreifen. Das Material steht allen kolumbianischen Schulen zur Verfügung. Erarbeitet wurde es vom Nationalen Zentrum für Historische Wahrheit mit Unterstützung der GIZ. In der Toolbox stecken Anregungen für Rollenspiele, Zeitzeugenberichte oder Lieder. Weil in Kolumbien viele Lehrer*innen und Schüler*innen selbst Opfer des Gewaltkonflikts sind, müssen die Materialien diese hochsensiblen Umstände berücksichtigen. In Puente Amarillo hat man schon reichlich Erfahrung damit – auch durch regelmäßige Workshops zur Lehrer*innenfortbildung, die von der GIZ organisiert werden. Das alles ist Teil des Programms ProPaz II – auf Deutsch: für den Frieden – mit dem die GIZ im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums und der Europäischen Union Stabilität und Frieden in dem südamerikanischen Land unterstützt.
Durch die Workshops wird auch ein pädagogisches Netzwerk gefördert, das im Juli 2017 gegründet wurde. Hier stärken sich Lehrerinnen und Lehrer gegenseitig bei ihrer Mission, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Jhon Cuervo gehört dazu. Er steht an einem klobigen, schwarzen Pult vorne im Klassenzimmer. An der Wand neben der Eingangstür steht ein Spruch des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: „Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muss man es vorwärts.“ 30 Jugendliche im Alter von 16 Jahren nehmen an langen Tischreihen Platz. Ein Thema, das sie besonders beschäftigt, sind die Morde an Vertreter*innen sozialer Bewegungen. Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 hat die Gewalt im Land nicht aufgehört. Nach Angaben der nichtstaatlichen Organisation Indepaz sollen seither mehr als 1.300 Menschen ermordet worden sein, die sich für soziale Belange oder den Schutz der Menschenrechte einsetzten. Die Jugendlichen haben ein Theaterstück dazu geschrieben. Die Handlung: Kleinbäuerinnen und -bauern sollen von einem multinationalen Unternehmen verdrängt werden. Sie wehren sich dagegen – und werden von Paramilitärs bedroht und ermordet. Sozialkundelehrer Cuervo hat die Schüler*innen betreut und ist stolz. „Wir möchten an dieser Schule das kritische Denken fördern.“ Doch schätzen das die Eltern in einem Land, das politisch zutiefst gespalten ist? „Wir müssen behutsam vorgehen“, sagt Cuervo. „Niemals werden wir parteipolitisch und wir nennen keine Namen. Wir geben den Schülern die grundlegenden Informationen – die Schlussfolgerungen müssen sie alleine ziehen.“ So arbeitet die Schule ganz im Sinne von Kierkegaard für eine Zukunft, die aus der Vergangenheit Lehren zieht.
Lieder über den „geerbten Krieg“
Mehr als 400 Kilometer entfernt, an der Grenze zu Venezuela, sitzen Pepe, Estefania und ihre Schwester Sara an einem Gartentisch unter einem Mangobaum. Die drei wohnen in der Stadt Cúcuta und gehören zu den Gründer*innen eines kreativen Kollektivs. „5ta con 5ta“ heißt es, benannt nach der Straßenecke, an der es 2008 mit seiner Arbeit begonnen hat. 17 Leute gehören zu dem Team, das in Workshops Jugendliche anregt, sich künstlerisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: in Form von Graffitis, Tanzprojekten oder durch Musik. Die GIZ unterstützt diese Kulturinitiative durch ProPaz II. Jorge Botello, genannt Pepe, zeigt auf einem Laptop Videoclips, die in Workshops entstanden sind. „Das ist nicht unser Krieg, wir haben ihn nur geerbt“, rappt ein Junge darin. Andere Jugendliche singen von Gewalt gegen Frauen. Von Menschen, die weggeworfen werden, als wären sie Müll. Aber auch davon, dass sie eine neue Generation sind, die in Frieden leben will. Das Kollektiv organisiert Workshops an Schulen und Kulturzentren in der Region. Pepe beschreibt die drei Hauptziele: „Opfer müssen Namen bekommen, sie dürfen nicht nur eine Nummer in der Statistik sein. Die Jugendlichen müssen Lust bekommen, zu lernen, und einsehen: Das ist der Weg. Und sie müssen verstehen: Was passiert zurzeit in meiner Region – und warum?“ Die Grenzregion zu Venezuela gehört zu den Hauptanbaugebieten von illegalem Koka in Kolumbien und ist immer noch eine stark umkämpfte Region. Guerillagruppen, Drogenkartelle und Paramilitärs wollen die Schmuggelrouten kontrollieren und sich die Vorherrschaft sichern. Auf die Frage, ob die Arbeit für den Frieden in diesem Umfeld nicht gefährlich sei, meint Pepe: „Wir werden nicht als Gefahr wahrgenommen, wir gelten als die verrückten Künstler.“
„Mein Opa wurde bei der Ernte getötet“
Wie komplex es ist, sich in Kolumbien mit dem gewaltsamen Konflikt zu beschäftigen, zeigt auch eine Unterrichtsstunde an der Schule Puente Amarillo. Eine Lehrerin fordert die Jugendlichen zunächst auf, sich in zwei Reihen aufzustellen und Paare zu bilden: Original und Spiegel. Kratzt sich das Original am Ohr, macht es der Spiegel nach. Reibt es sich den Bauch, tut es der Spiegel nach. Einige lachen, andere sehen genervt aus, weil die Übung nicht synchron funktioniert. „Seht ihr? Wir können nicht koordiniert handeln, ohne miteinander zu sprechen“, sagt die Lehrerin. „Jeder von uns ist anders, hat andere Erfahrungen im Leben gemacht.“ Das Rollenspiel war Einstieg zu einem Gespräch über die eigenen Erinnerungen: Wer bin ich? Was habe ich erlebt? Damit die Mädchen und Jungen verstehen, dass jede und jeder von ihnen den gewaltsamen Konflikt ganz unterschiedlich wahrgenommen hat. Und einander zuhören hilft, den anderen zu verstehen.
„Guerilleros haben meinen Opa getötet, als er bei der Ernte war. Sie dachten, er wäre ein Paramilitär. Aber es war eine Verwechslung“, erzählt ein Junge. Ein anderer sagt: „Ich bin froh, dass das Militär zu uns ins Dorf kam und die Guerilla vertrieben hat, sonst hätten sie mich mitgenommen und ich wäre jetzt ein Kämpfer.“ Die Lehrerin lobt, wie die Kinder ihre Erfahrung miteinander teilen: berichten, ohne Vorwürfe. Und sie erzählt, wie sie den Mord eines Bekannten durch Paramilitärs mit ansehen musste. „Wir haben alle so viel Grausames erlebt in diesem Land“, sagt die 40-Jährige. Sie möchte nicht mit Namen genannt werden, weil sie bis heute Angst hat, von dem Erlebten zu berichten. Trotzdem ist sie fest überzeugt: Die Schulen müssen ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten. „Deshalb engagiere ich mich auch für den Frieden und bin bei jeder Fortbildung dabei!“ —
KOLUMBIEN
Hauptstadt: Bogotá / Einwohner: 49,4 Millionen / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 6.190 US-Dollar (1) / Wirtschaftswachstum: 2,7 Prozent (2) / Rang im Human Development Index: 90 (von 189)
Der breite Ansatz, mit dem die GIZ im Auftrag der Bundesregierung den Friedensprozess unterstützt, umfasst neben der Friedensentwicklung auch die Vergangenheitsbewältigung und kollektive Erinnerungsarbeit. So haben mehr als 50 Organisationen sowie formelle und informelle Bildungseinrichtungen innovative und/oder pädagogische Konzepte zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer eingesetzt.
aus akzente 2/19 (aktualisiert 9/22)
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