Essay Menschliche Sicherheit
Zwei Schritte vor, einer zurück
IN DIESEM BEITRAG
1. VERGANGENHEIT
Wie das Konzept der menschlichen Sicherheit entstand und sich durchsetzte.
2. GEGENWART
Welche Entwicklungen die Welt und damit die Wahrung menschlicher Sicherheit gefährden.
3. ZUKUNFT
Fünf Punkte, die die Weltgemeinschaft angehen sollte, um die menschliche Entwicklung zu fördern.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand die Auffassung, dass Sicherheit allein etwas mit dem Schutz von Staaten und Staatsgebieten zu tun habe; stattdessen trat das Wohl von Individuen in den Vordergrund. Nur wenige Jahre waren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vergangen, als das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in seinem jährlichen Bericht zur menschlichen Entwicklung (Human Development Report, HDR) ein neues Paradigma einführte – das der menschlichen Sicherheit. „Ohne den Menschen in den Mittelpunkt von Entwicklung zu stellen, ist keines unserer Hauptziele zu erreichen“, warnte UNDP damals, „nicht Frieden, nicht Menschenrechte, nicht Umweltschutz, genauso wenig wie eine Abschwächung des Bevölkerungswachstums oder gesellschaftliche Integration.“ Es sei viel humaner und koste auch weniger, vorausschauend zu handeln, statt später die Trümmer wieder zusammenzufügen, lautete die Begründung.
„Leider nimmt die Bereitschaft ab, anderen zu helfen, obwohl uns die Globalisierung alle stärker voneinander abhängig macht.“
Der neue Ansatz menschlicher Sicherheit stützte sich auf vier Prinzipien: Handlungen sollten personenbezogen und umfassend sein, das Umfeld berücksichtigen und vorbeugend wirken. Die neue Sichtweise basierte auf einer Verschiebung in der Entwicklungsökonomie. Nicht mehr das Nationaleinkommen stand im Zentrum aller Überlegungen, sondern der Mensch. Dieser volkswirtschaftliche Ansatz ging auf den pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq und den indischen Nobelpreisträger Amartya Sen zurück. Die Menschen seien der „wahre Reichtum einer Nation“, schrieb Haq 1990. Deshalb gelte es, deren Handlungsspielräume so zu erweitern, dass sie ein langes und gesundes Leben führen, gute Bildung genießen und einen anständigen Lebensstandard erreichen könnten. Dieser Ansatz wurde bald bekannt als „menschliche Entwicklung“ und kam vor der Neuausrichtung des Sicherheitsbegriffs.
Freiheit und Würde
Nichtsdestotrotz benötigte die UN-Generalversammlung fast zwei Jahrzehnte, um eine Definition von menschlicher Sicherheit zu entwickeln. In einer Resolution aus dem Jahr 2012 hielt sie schließlich fest, es sei Aufgabe der Mitgliedstaaten, das Überleben und den Wohlstand ihrer Einwohner zu sichern. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Menschen „das Recht haben, in Freiheit und Würde zu leben, frei von Armut und Verzweiflung“. Und dass sie alle die gleiche Chance haben müssen, ihr jeweiliges Potential zu entfalten.
Doch die Debatte fand nicht allein in Entwicklungszirkeln, sondern auch in Sicherheitskreisen statt. Denn mit dem Rückgang zwischenstaatlicher Kriege erhielten Konflikte innerhalb von Ländern deutlich mehr Aufmerksamkeit als früher. Daher entwickelten die UN und die NATO, ausgelöst durch die Völkermorde in Bosnien und Ruanda, die Doktrin „Responsibility to Protect“ (R2P), die sogenannte „Schutzverantwortung“. Sie wurde schließlich auf einem UN-Gipfel im Jahr 2005 verabschiedet, aber vorher schon in Somalia, im Irak und in Afghanistan mit unterschiedlichem Erfolg angewendet. Laut R2P-Doktrin hat die internationale Gemeinschaft das Recht – und die Verpflichtung –, in souveräne Staaten einzugreifen, wenn diese das Leben und Wohl ihrer Bevölkerung nicht schützen.
Obwohl das Konzept Kritikern als Vorwand für Militärinterventionen gilt, bildet die Kombination dieser drei neuen Paradigmen – menschliche Entwicklung, menschliche Sicherheit und R2P – mittlerweile einen Dreiklang, der als „umfassender Ansatz“ firmiert. Ohne diese grundlegend andere Sichtweise, die in allen drei Konzepten steckt, gäbe es heute weder die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) noch die nachfolgenden Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs).
Dazu kam noch ein weiterer wichtiger internationaler Faktor: die Globalisierung. Ausgelöst durch das Ende der bipolaren Welt, verstärkte diese nächste Welle der Globalisierung den freien Fluss von Menschen, Kapital, Daten, Ideen und Gütern in einem weitaus höheren Maß als frühere Phasen zunehmender Internationalisierung, etwa zwischen 1860 und 1914 oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die neu geschaffene Welthandelsorganisation (WTO) bestätigte diesen Trend und ermutigte alle Nationen, Freihandel zu fördern: Ihr trat im Jahr 2001 mit China sogar ein Entwicklungsland bei.
Gleichzeitig verband die von Digitalisierung und Internet getriebene vierte industrielle Revolution Menschen auf der ganzen Welt fast zum Nulltarif. Das machte eine noch stärkere Verquickung von Wertschöpfungsketten über Länder und Kontinente hinweg möglich. So verlagerten etwa westliche Unternehmen einen Teil ihrer Produktion in Schwellenländer, um Lohnkosten zu sparen. Dadurch wurde das Wachstum in den Entwicklungsländern angekurbelt; es bildete sich eine neue Mittelschicht, die das Wirtschaftswachstum noch weiter verstärkte.
Wachsende Mittelschicht
Die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung profitierte von diesen Entwicklungen: In den vergangenen 25 Jahren hat sich die sozioökonomische Situation der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich verbessert. Zwischen 1990 und 2010 ist der Anteil der Menschen, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen, auf rund zehn Prozent gefallen. Gleichzeitig hat sich der Anteil an Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern, die der globalen Mittelschicht angehören, verdreifacht.
„Zwischen 1990 und 2010 ist der Anteil der Menschen, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen, auf rund zehn Prozent gefallen.“
Überhaupt ist der Aufstieg dieser weltweiten Mittelschicht historisch ohne Beispiel und trägt enorm zu mehr menschlicher Sicherheit bei. Denn konkret bedeutet das: Immer mehr Menschen können sich selbst verwirklichen, weil sie nicht mehr im täglichen Überlebenskampf gefangen sind. Auch wenn sich der Zuwachs wesentlich auf China, Südamerika und Osteuropa konzentriert und innerhalb dieser Mittelschicht die Sorge zu spüren ist, sie könnte – nicht zuletzt wegen einer schwächelnden Weltwirtschaft – zurück in Armut fallen, bleibt es unterm Strich eine außerordentliche Erfolgsgeschichte. Anders in den Industrieländern; dort kämpft die Mittelschicht mit stagnierenden oder sogar fallenden Einkommen. Dadurch weitet sich die Schere zwischen Arm und Reich – und reduziert menschliche Sicherheit. Ein Umstand, der populistischen Strömungen Oberwasser gibt.
Bildung als Schlüssel
Die größte Veränderung zum Positiven zeigt sich wahrscheinlich bei der Bildung, wo Kinder länger zur Schule gehen und immer höhere Abschlüsse erreichen. Die sogenannten Bildungsraten steigen in Entwicklungsländern heute sogar schneller als im Westen des 19. und 20. Jahrhunderts, als Bildung zu einem entscheidenden Baustein von Fortschritt und Wohlstand wurde. Und davon profitieren längst nicht nur die Jungen, sondern inzwischen auch die Mädchen. Im Nahen Osten und Nordafrika zum Beispiel werden Prognosen zufolge bis zum Jahr 2030 Mädchen im Schnitt sieben Jahre zur Schule gehen, im Vergleich zu den heutigen fünf. Damit schließen sie langsam zu den Jungen auf.
Alles in allem sind im vergangenen Vierteljahrhundert klare Fortschritte erzielt worden. Das zeigt sich auch im Kampf gegen Armut: So wurde MDG1 – die Zahl der Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben, zu halbieren – bereits 2008 und damit deutlich vor dem Zieljahr 2015 erreicht. Insgesamt hat unsere Welt nach Hunderten von Jahren, in denen Imperialismus, Hegemonie und Konflikte dominierten, heute größere wirtschaftliche und individuelle Möglichkeiten, auch für Frauen, und verzeichnet zudem einen Rückgang an Kriegen. Gleichzeitig erleben wir derzeit den Aufstieg populistischer Parteien und einen wachsenden Nationalismus; beides bringt Demokratien ernsthaft unter Druck und begünstigt autoritäre Regime. Leider nimmt auch die Bereitschaft ab, anderen zu helfen, obwohl uns die Globalisierung alle stärker voneinander abhängig macht. Oder wie es der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan einst formulierte: „Wir leben in einer Welt, in der kein Individuum und kein Land isoliert existiert. Entsprechend scheren sich Umweltverschmutzung, organisiertes Verbrechen und die Verbreitung tödlicher Waffen herzlich wenig um Feinheiten wie Grenzen. Es sind Probleme ohne Pass und deshalb Feinde von uns allen.“
Gefahr Klimawandel
Die größte Herausforderung jedoch, vor der die Menschheit derzeit steht, ist der Klimawandel. Auch hier ist kollektives Handeln gefordert. Besonders gefährdet ist die Region um den Äquator. In Afrika südlich der Sahara – das vermutlich am meisten unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben wird – wächst dazu auch noch die Bevölkerung weiter. Schon jetzt sind viele Länder dort kaum in der Lage, ihre Bewohner*innen zu ernähren. Der erwartete Temperaturanstieg wird den Anbau bisheriger Pflanzensorten erschweren und die Ernährungslage dadurch noch unsicherer machen. Obwohl die Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, kein Land ganz verschonen, ist es schwierig, internationale Abkommen und verbindliche Verpflichtungen zu verabschieden und umzusetzen.
Nicht mehr nur reagieren
„Um den Rückfall in nationalistische Reflexe zu stoppen und der internationalen Zusammenarbeit wieder Vorrang zu geben, ist es wichtig, nicht immer nur auf Krisen zu reagieren.“
Um den aktuellen Rückfall in nationalistische Reflexe zu stoppen und der internationalen Zusammenarbeit wieder Vorrang zu geben, ist es wichtig, nicht immer nur auf Krisen zu reagieren, sondern sie vorausschauend und auf lange Sicht zu managen. Nur dann lässt sich die Agenda 2030 erfüllen und menschliche Sicherheit verbessern. Dafür allerdings müssen die führenden Politiker und Politikerinnen die wesentlichen Faktoren erkennen, die unsere hochdynamische Welt antreiben. Scheitern sie und bleiben weiter im Krisen-Reaktions-Modus, wird es zu ernsten Legitimationsproblemen im politischen System und zu wachsendem Misstrauen gegenüber den etablierten Institutionen kommen. Es entstehen auch neue soziale Bewegungen wie Fridays for Future und setzen das politische System vielleicht noch mehr unter Druck. Umso wichtiger ist es, überlegt und umsichtig zu handeln. Dazu braucht es nicht immer gleich den großen Wurf und Änderungen des ganzen Systems, manches lässt sich auch einfacher bewerkstelligen:
Erstens und vor allem müssen die politischen Entscheider*innen und die dazugehörenden Verwaltungen verstehen, dass wir in einer Welt umfassender Abhängigkeiten leben, die zunehmend anfällig, unsicher, komplex und verwirrend wird.
Zweitens ist es unabdingbar, die Wählerinnen und Wähler über die gesellschaftlichen und individuellen Kosten aufzuklären, die der dringend erforderliche Umbau zu grünen und nachhaltigen Volkswirtschaften mit sich bringt.
Drittens ist eine Politik gefragt, die sich nicht an Problemen, sondern Lösungen orientiert. Im Zentrum der politischen Vermittlung sollte nicht stehen, was die Bürgerinnen und Bürger aufgeben müssen, sondern was sie gewinnen.
Viertens braucht es umfassende Politikansätze statt einzelner Maßnahmen und neue Formen politischer Teilhabe, der Entscheidungsfindung und geteilter Verantwortung. Die Zusammenarbeit zwischen Ministerien lässt sich innerhalb nationaler Regierungen verbessern, auch ohne Verfassungen zu ändern.
Fünftens gilt es, sich mit Gleichgesinnten auf nationaler und internationaler Ebene zusammenzuschließen und abzustimmen, um zu zeigen, dass Wandel möglich ist.
Menschliche Entwicklung, die auf dem Prinzip menschlicher Sicherheit basiert – also einem Leben frei von Furcht und Mangel für alle Hautfarben, Geschlechter und Nationalitäten –, ist möglich. Aber sie lässt sich nur erreichen, wenn wir unsere Gesellschaften und politischen Prozesse neu erfinden und das Wohl anderer als ebenso wichtig erachten wie unser eigenes. —
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