Reportage
Stille war gestern
„Als die Einschläge der Granaten immer näher kamen, schnappte ich mir Liana und Rafael und floh mit ihnen nach Melitopol. Ich hatte solche Angst um meine Kinder.“ Marina Lyakh erinnert sich genau an die bedrohlichen Tage, bevor sie mit ihrem Mann, ihrer zweijährigen Tochter und ihrem achtjährigen Sohn die Stadt Donezk im Osten der Ukraine verließ.
Die Familie floh ins 300 Kilometer westlicher gelegene Melitopol. Hier waren sie vor den Gefechten sicher, doch sie standen vor dem Nichts: „Früher waren wir in Donezk glücklich. Doch der Krieg hat unser Haus und unser altes Leben zerstört. Uns blieb nur die Flucht.“
Durchatmen nach der Flucht
Marina Lyakh sitzt in der Lermontov-Bibliothek, einer von fünf städtischen Büchereien von Melitopol, um von ihrem Neuanfang zu berichten. Hier fand sie Unterstützung in dieser schwierigen Lage. „Als mir eine Mitarbeiterin einen heißen Kaffee in die Hand drückte, konnte ich mich das erste Mal wieder etwas entspannen.“ Marina Lyakh teilt das Schicksal mit 1,5 Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen: Nach der Besetzung der Region Donbass 2014 durch prorussische Separatisten suchten sie Schutz in anderen Städten. Allein in den drei an die Konfliktregion angrenzenden Bezirken haben 300.000 Binnenvertriebene eine neue Heimat gefunden.
Damit sich die Städte und Gemeinden dieser Herausforderung besser stellen können, fördert die GIZ im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums die soziale Infrastruktur in der Ukraine. Dazu gehört der Ausbau der teils maroden Bibliotheken und Kulturhäuser zu modernen Begegnungszentren. So soll Spannungen zwischen Binnenvertriebenen und Einheimischen vorgebeugt und der Aufbau einer lebendigen Zivilgesellschaft gefördert werden.
Seit der Ankunft der Landsleute aus den östlichen Regionen müssen die Teams in den Büchereien von Melitopol viel mehr leisten, als nur Bücher zu verleihen. Geflohene Menschen beantragen dort neue Ausweise und bekommen Hilfe bei der Suche nach Unterkünften, Kinderbetreuung und vermissten Angehörigen. Zudem werden Kurse und Fortbildungen angeboten, um berufliche Perspektiven zu verbessern. Und es sind Orte für entspannten Austausch mit den Bürgern aus den aufnehmenden Gemeinden. Mit dieser Fülle an neuen Aufgaben waren die Büchereien und ihr Personal überfordert. „Um ihnen zu helfen, unterstützt die GIZ die Bibliotheken unter anderem bei dringend notwendigen Gebäudesanierungen, der technischen Ausstattung sowie mit Trainings für das Personal etwa zu den Themen Personalmanagement, Fundraising und Public Relations“, erklärt Projektberater Andriy Garbuza. Es wurden bereits 27 Bibliotheken modernisiert. Davon haben bisher mehr als 275.000 Menschen profitiert.
Mehr Leben in den Büchereien
„Die Bibliothek und ihre Mitarbeiter*innen haben mir geholfen, etwas Neues für mich und meine Familie aufzubauen“, berichtet Marina Lyakh. Nach ihrer Flucht erhielt sie dort ihren Pass für Binnenvertriebene und viele Tipps, wie sie sich in ihrer neuen Heimat zurechtfinden kann. Lyakh ist Rechtsanwältin, aber in diesem Beruf hat sie in Melitopol keine Anstellung gefunden. Mittlerweile arbeitet Lyakh für eine nichtstaatliche Organisation, die sich mit Kunst- und Spieltherapien um kriegstraumatisierte Kinder kümmert. Dafür wurde sie geschult und spielt jetzt regelmäßig mit Jungen und Mädchen. Alles in den Räumen der Bibliothek. Auch einer der Jugendclubs von Melitopol trifft sich dort zu Foto- und Videoworkshops. Die 35 Mitglieder bekommen Raum für ihre Ideen und setzen sich beispielsweise für ein Jugendparlament in der Stadt ein. „Sonst gibt es für Jugendliche kaum Angebote. Viele junge Menschen wollen die Stadt deshalb verlassen. Mit dem Jugendparlament wollen wir dafür sorgen, dass unsere Stimme endlich gehört wird“, sagt der 15-jährige Roma Kuzmin.
Inna Efimenko, Leiterin der fünf Bibliotheken von Melitopol, ist stolz, dass dort mittlerweile engagiert diskutiert wird. „Unsere Häuser haben sich von stillen, leeren Orten zu lauten und lebendigen Dienstleistungs- und Freizeitzentren entwickelt“, sagt sie. Die Besucherzahlen haben sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt, in einzelnen Einrichtungen sogar verdreifacht. Wichtig ist Inna Efimenko dabei eines: „Bei uns werden alle gleich behandelt. Egal, ob ein Mensch schon immer hier gelebt hat oder zu uns fliehen musste. Das hat dazu beigetragen, dass befürchtete Konflikte in unserer Stadt ausgeblieben sind.“
Ansprechpartner: Maik.Matthes@giz.de
August 2019