Essay Bildung

Auf dem Sprung Richtung Zukunft

Die Pandemie zeigt es deutlicher denn je: Bildung ist unverzichtbar und die klügste Investition der Welt, vor allem für Mädchen. Warum das so ist, erklärt die in Südafrika lebende Bildungs- und Wissenschaftsautorin Megan Lindow.

Text
Megan Lindow
Illustration
Florian Bayer

Als die Corona-Pandemie kam, schlossen Schulen überall auf der Welt ihre Tore. Mitte April 2020 wurden an die 1,6 Milliarden Kinder – etwa 90 Prozent aller Lernenden weltweit – aus ihren Klassenzimmern ausgesperrt. Durch den Schock dieser noch nie dagewesenen Unterbrechung des Lernens hat die Welt neu wertschätzen gelernt, wie wichtig Bildung für fast jede Facette unseres Lebens ist. Plötzlich wurde den meisten Kindern und Jugendlichen – samt ihren Familien – nicht bloß das gemeinsame Lernen im Klassenzimmer vorenthalten, sondern auch eine Vielzahl anderer Möglichkeiten und Ressourcen: soziale Interaktion, persönliche Anleitung, Gemeinschaft, Zugehörigkeitsgefühl, Alltagskompetenzen, Unterstützung bei psychischen Problemen, körperliche Sicherheit und Gratismahlzeiten – um nur einige zu nennen.

IN DIESEM BEITRAG

 

1. UNBEZAHLBAR
Weshalb die Investition in fundierte Bildung aller Jungen und Mädchen die klügste Anlage der Welt ist.
 

2. UNTEILBAR
Warum von der Förderung der Schwächsten am Ende alle profitieren und die Gesellschaft gewinnt.
 

3. UNABSEHBAR
Wie die Weltgemeinschaft sich durch starke Bildungssysteme gegen zukünftige Krisen wappnen kann.

Lehrkräfte, Nichtregierungsorganisationen und Gemeinden rund um den Globus haben viel versucht, um die Lücken zu schließen. Die Aufgabe lautete, unter höchstem Druck möglichst innovativ zu sein. In Europa und Nordamerika wechselten die meisten Schulen zum Onlineunterricht. Schülerinnen und Schüler in Kenia, wo Klassenzimmer 2020 neun Monate leer blieben, bekamen ihr Lehrmaterial aufs Handy geschickt. Kinder in Liberia und Burkina Faso hatten Zugang zu Unterrichtseinheiten über solarbetriebene Radios. Auch in Chile taten sich Lehrende zusammen, um Lektionen über das Radio auszusenden. Und in Pakistans bergiger Region Belutschistan wurden Schul- und Kinderbücher per Kamel von Dorf zu Dorf getragen.

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Über ein Jahr später sehen wir deutlich, dass die Pandemie die zentrale Herausforderung der Bildungssysteme sogar noch vergrößert hat: allen Kindern (und oft auch Erwachsenen) Zugang zu hochwertiger und bezahlbarer Bildung zu ermöglichen. Eingeschränkt wie nie zuvor, nehmen Lehrkräfte und Bildungsträger jetzt die Hürden stärker ins Visier, die den schwächsten und am meisten gefährdeten Gruppen den Zugang zu Bildung verwehren. Zugleich versuchen sie Neuerungen umzusetzen, damit schulisches Lernen besser den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht.

Die klügste Investition der Welt

Das vierte Ziel nachhaltiger Entwicklung (SDG) der UN will „inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern“. Aus gutem Grund ist Bildung sowohl als Menschenrecht verbrieft als auch zum Grundpfeiler von Entwicklung erklärt worden, auf dem andere Ziele wie Beendigung der Armut, Gesundheit, Gleichstellung der Geschlechter, menschenwürdige Arbeit, Innovationen, Bekämpfung der Ungleichheit und Frieden basieren. Nach Angaben der UNESCO erzeugt jeder US-Dollar, der für Bildung ausgegeben wird, zwischen zehn und 15 US-Dollar an Wirtschaftswachstum. 

Substanzielle Investitionen in weiterführende Schulen und Universitäten sind der Motor des wirtschaftlichen Erfolges von Ländern wie etwa Südkorea oder Vietnam. Südkorea hat die Sekundarbildung und die Berufsausbildung zügig ausgebaut. Während in den 1970er Jahren nur zehn Prozent der jungen Südkoreanerinnen und -koreaner eine Hochschulreife erwarben, sind es mittlerweile 87 Prozent. In Vietnam ist die Entwicklung noch nicht ganz so weit, aber das Land zeigt ebenfalls beeindruckendes Wachstum an akademischer Ausbildung.

„Nach Angabender UNESCO erzeugt jeder US-Dollar, der für Bildung ausgegeben wird, zwischen zehn und 15 US-Dollar an Wirtschaftswachstum.“

Doch schon vor Covid-19 stagnierte der Fortschritt zu den Bildungszielen. Etwa 97 Millionen Kinder in Afrika südlich der Sahara gingen nicht zur Schule – ihr Fernbleiben war Symptom weiter reichender Probleme wie Klimakrise, Konflikten, Naturkatastrophen, Krankheiten, Geschlechterungleichheit und familiärer Armut. Eins von vier Kindern lebt in einer von Krisen gebeutelten Region. Bis zum Jahr 2019 wurden zum Beispiel in West- und Zentralafrika mehr als 2.000 Schulen wegen Konflikten und mangelnder Sicherheit geschlossen; davon betroffen waren circa zwei Millionen Kinder und 44.000 Lehrkräfte. Viele andere junge Menschen auf der ganzen Welt versäumten Unterricht wegen Krankheiten oder Nahrungsunsicherheit aufgrund des Klimawandels.

Die Pandemie verstärkt solche Gefahren noch und macht so über viele Jahre hart erkämpfte Fortschritte zunichte: Sie dürfte in armen Familien den Druck auf Millionen Kinder erhöhen, statt des Schulbesuchs arbeiten zu gehen oder zu heiraten – was vor allem für Mädchen gilt. Untersuchungen früherer Krisen und Schulschließungen, wie der Ausbruch von Ebola 2014 in Sierra Leone, haben gezeigt, dass Mädchen noch häufiger als Jungen der Schule fernbleiben, wenn ihre Ausbildung einmal unterbrochen wurde. Auch droht ihnen ein höheres Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt und früher Schwangerschaft.

In Corona-Zeiten muss es daher Priorität haben, die Rückkehr von Mädchen in wieder geöffnete Schulen zu fördern. Mädchenbildung gilt als die klügste Investition der Welt. Daten zeigen, dass sie einer der wirkmächtigsten Einzelfaktoren ist, um Armutskreisläufe zu durchbrechen, Gesundheit und Entwicklung zu verbessern, weibliche Führungskräfte zu fördern, den Klimawandel zu bekämpfen und auf Generationen hinaus positive Welleneffekte für die ganze Gesellschaft zu erzeugen. Nach Angaben der UNESCO wird eine ausgebildete Frau ihre eigenen Kinder mit doppelter Wahrscheinlichkeit zur Schule schicken. „Aus Mädchen, die eine Schule besuchen, werden selbstbewusste und anspruchsvolle Frauen. Sie lassen sich nicht zu frühen Eheschließungen zwingen und haben meist gesündere, kleinere Familien, was bis weit in die Zukunft zur Reduktion von Emissionen führt“, schreibt die jugendliche Klimaaktivistin Vanessa Nakate aus Uganda in einer aktuellen Ausgabe des Time Magazine.

Radikale Inklusion

Auch wenn viele Länder große Schritte in Richtung gebührenfreier allgemeiner Schulbildung unternommen haben, ist der Zugang für Mädchen und andere gefährdete Gruppen immer noch schwierig. Aus diesem Grund hat Sierra Leone vor kurzem eine neue Politik der radikalen Inklusion vorgestellt. Sie stellt benachteiligte Mädchen, behinderte Kinder und die arme Landbevölkerung ins Zentrum der Bemühungen. „In der Praxis bedeutet das, Kindern marginalisierter und ausgeschlossener Gruppen aktiv zu ermöglichen, in die Schule zu kommen und dort zu bleiben, bis sie einen Abschluss erworben haben. Es bedeutet, das Bildungssystem so anzupassen, dass es ihren Lernbedürfnissen entspricht. Und es bedeutet zu gewährleisten, dass die Schule ein Ort der Würde, Sicherheit und des Respekts für alle ist – und zugleich systematisch kulturelle, politische und praktische Bildungshürden abzubauen“, schreibt David Moinina Sengeh, Sierra Leones Schulminister.

„Inklusion macht Bildungssysteme flexibler und unterstützt lebenslanges Lernen.“

Von inklusiven Maßnahmen profitieren auch Gesellschaften im Allgemeinen. Studien zeigen, dass Diversität und Inklusion in der Lernumgebung bessere schulische Ergebnisse hervorbringen und zudem Kreativität, Zusammenarbeit, soziale Kompetenzen, psychische Gesundheit und Wohlbefinden fördern. Inklusion macht Bildungssysteme auch flexibler und unterstützt lebenslanges Lernen. Minderjährige Mütter, Flüchtlinge, Migrant*innen und andere ausgeschlossene Gruppen benötigen verschiedene Wege zurück in die Schulen, wenn ihre Ausbildung unterbrochen wurde. Da Klimakrise, Konflikte und Naturkatastrophen Störungen und Unterbrechungen wahrscheinlicher machen, werden robuste und flexible Bildungssysteme immer wichtiger.

Innovationen für Afrikas Jugend

Für Subsahara-Afrika ist es besonders dringlich, in Bildung auf allen Ebenen zu investieren. Die Region hat die jüngste und am schnellsten wachsende Bevölkerung überhaupt. Das stellt Institutionen vor ungeahnte neue Anforderungen. Dabei platzen sie schon jetzt aus allen Nähten. So sollen sich die Anmeldungen für weiterführende Schulen bis 2030 verdoppeln – während bereits heute nur für jede dritte Schülerin und jeden dritten Schüler ein Platz in einer Sekundarschule zur Verfügung steht. Schätzungen zufolge fehlen 90 Prozent aller Jugendlichen in einkommensschwachen Ländern grundlegende Kenntnisse der Sekundarstufe, wohingegen das nur bei 30 Prozent der Jugendlichen in wohlhabenderen Ländern der Fall ist. Die mangelnden Schulplätze sind ein Grund für dieses schwache Ergebnis, aber es zeigt auch, wie wichtig es ist, die Lehrpläne und den Unterricht zu verbessern.

Derzeit befinden sich etwa 75 Prozent der afrikanischen Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen. Afrika muss seine jungen Menschen dringend besser ausbilden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können und man den demografischen Boom wirklich nutzen kann. Das gelingt aber nicht, wenn bestehende Lernmodalitäten nur fortgeführt werden. Rasche Innovationen sind ebenso vonnöten wie ein frischer Ansatz zur Entwicklung der technischen, praktischen und kritischen Intelligenz von Jugendlichen sowie ihrer kreativen, sozialen und emotionalen Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt verlangt werden.

„Einsichten aus der Corona-Krise könnten genutzt werden, um das Bildungswesen insgesamt zu verbessern.“

Educate!, so heißt eine ugandische Nichtregierungsorganisation, die direkt in weiterführenden Schulen in Kenia, Ruanda und Uganda gearbeitet und 470.000 Jugendlichen geholfen hat, solche Fähigkeiten zu entwickeln. Als Covid-19 zuschlug, musste die Organisation eine schnelle Kehrtwende hinbekommen: von direkter, persönlicher Ansprache zum Lernen auf Distanz. Während die Organisation neue Lernformen einführte, darunter Radiounterricht, Telefonkonferenzen und SMS-Versand, analysierte sie zugleich die Wirksamkeit solcher Maßnahmen. 

Der Prozess zeigte, dass ergänzender Distanzunterricht zwar den Präsenzunterricht nicht ersetzen kann, wohl aber – wenn er vernünftig und angemessen konzipiert ist – belastbare und flexible Möglichkeiten bietet, Jugendlichen (besonders marginalisierten) zu helfen, ihren Lernschwung auch unter schwierigen Umständen beizubehalten, schreiben Hawah Nabbuye und Sarah Kayondo aus dem Leitungsgremium der Organisation.

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Einsichten aus der Corona-Krise könnten genutzt werden, um das Bildungswesen insgesamt zu verbessern. Stärkere Lernergebnisse lassen sich demnach durch einige wenige Faktoren erzielen: Die Qualität der Vermittlung muss stimmen und Kinder sollten nach ihren Fähigkeiten und nicht nach ihrem Alter unterrichtet werden. Digitale Lösungen können solche grundlegenden Mängel nicht ausgleichen, aber sie können angepasst und eingesetzt werden, um beispielsweise das Lernen in überfüllten und schlecht ausgestatteten Klassenzimmern zu verbessern. In Burkina Faso, wo eine von 20 Personen wegen bewaffneter Konflikte vertrieben oder auf der Flucht ist, hat die Regierung Distanzunterricht eingeführt und plant ihn auch fortzusetzen, um Kinder zu erreichen, die keine reguläre Schule besuchen können. „Für uns ist das ein unumkehrbarer Prozess“, sagte Bildungsminister Stanislas Ouaro der Nachrichtenagentur Thomson Reuters.

Kompetenzen für Herausforderungen entwickeln

Die Pandemie hat gezeigt, wie tiefgreifend und verknüpft die Umwälzungen sind, die unsere Welt erfassen und neu ordnen: Klimakrise, globale Ungleichheit, wirtschaftliche Globalisierung, eine vierte industrielle Revolution, künstliche Intelligenz. Sie hat auch offengelegt, wie wichtig Bildung ist, um die nötige Widerstandskraft zu schaffen und das Wissen zu erlangen, mit dem Gesellschaften auf Krisen, Katastrophen und Konflikte reagieren und Frieden schaffen können.

Zum Teil als Reaktion auf die globalen Herausforderungen wenden Lehrende pädagogische Methoden des erfahrungsbezogenen Lernens an, die Schüler und Schülerinnen mit Themen der realen Welt konfrontieren und agiles, partnerschaftliches, flexibles, technisch versiertes, emotional intelligentes und eigenmotiviertes Lernen fördern. Einheitslösungen in der Bildung weichen allmählich diversen, komplexen und vernetzten Ansätzen, die auch ökologische Intelligenz, Zielsetzungen, soziale Gerechtigkeit und radikale Inklusion mit einbeziehen.

„In Schulen können junge Menschen lernen, engagierte Bürgerinnen und Bürger ihrer Gemeinschaft zu werden.“

In Schulen können junge Menschen lernen, engagierte Bürgerinnen und Bürger ihrer Gemeinschaft zu werden – sie sind daher wichtige Orte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hier lernen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Kulturen, unterschiedlicher Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit und Nationalität, einander zu begegnen, miteinander zu arbeiten und gemeinsame Werte wie Gleichberechtigung, Menschenrechte, Respekt und Freiheit zu entwickeln. 

In einem Artikel der Brookings Institution hieß es vor kurzem, Bildung zur Nachhaltigkeit sei ein wirkungsvolles Mittel sowohl zum Lernen als auch, um Klimabewusstsein und Klimagerechtigkeit zu schaffen. Es gibt deutliche Hinweise, dass Lernen durch Erfahrung – konzeptionelles Lernen in Verbindung mit konkreten, praktischen Echtweltereignissen – bei Kindern zu tieferen und dauerhafteren Ergebnissen führt. Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass sich auf dem Feld des Klimawandels überall auf der Welt zahllose Möglichkeiten zum erfahrungsbezogenen Lernen bieten. Dabei kann es sich um wassersparende Landwirtschaft in Simbabwe handeln oder um die Beobachtung menschlicher Einwirkung auf Meeresschutzgebiete in Mosambik. „Wird die Kreativität von Lernenden und Lehrenden genutzt, kann jede Lehrerin Klimaschützerin werden, jeder Schulclubsprecher Aktivist, und jede Unterrichtsstunde kann dazu beitragen, eine Dimension der Klimakrise und ihre zugrundeliegenden Ursachen anzugehen und/oder sich an ihre Auswirkungen anzupassen“, schreiben die Autor*innen.

Durch solche Möglichkeiten lassen sich nicht nur Fähigkeiten für eine unsichere Zukunft entwickeln – sondern auch für eine aktive Rolle bei der Gestaltung dieser Zukunft.

aus akzente 2/21

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