Interview
„Wir müssen unser Ernährungssystem reformieren“
Die Zahl der Hungernden steigt wieder, nachdem sie jahrelang gesunken war. Überrascht Sie das?
Nicht wirklich. Wir konnten bis 2015 einen deutlichen Rückgang des Hungers beobachten. Das war ein Fortschritt und sicher auch ein Grund, warum sich die Staatengemeinschaft mit dem Sustainable Development Goal Nummer zwei das Ziel gesetzt hat, bis 2030 eine Welt ohne Hunger zu schaffen. Das schien durchaus realistisch damals.
Was ist seither geschehen?
Mittlerweile steigen die Zahlen wieder. Das hat verschiedene Gründe: Der Klimawandel zeigt deutlicher seine Spuren mit Überschwemmungen, Hitzeperioden und größeren Dürren, was sich negativ auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln auswirkt. Dazu kommt: Das gesamte Ernährungssystem ist nicht nachhaltig – von der Produktion bis zum Konsum. Die Auswirkungen davon schlagen sich auch in den Hungerzahlen nieder. Dann kam die Corona-Pandemie. Und schließlich noch der russische Angriffskrieg in der Ukraine.
Hat der Krieg das Fass zum Überlaufen gebracht?
Wir waren auch vor Ausbruch des Krieges schon in einer angespannten Situation. Was wir jetzt sehen, ist eine zusätzliche Krise, die die Lage noch deutlich verschärft hat. Diese sich überlagernden Krisen haben uns in der Ernährungssicherung um rund zehn Jahre zurückgeworfen – und das ist tragisch.
Was können wir gegen die Verknappung von Nahrung unternehmen? Wo hakt es im System Ihrer Meinung nach?
Wie ich schon sagte: Weder die Produktion noch der Konsum von Nahrungsmitteln sind derzeit nachhaltig. Unser Ernährungssystem ist insgesamt sehr stark reformbedürftig.
Wo würden Sie ansetzen? Brauchen wir mehr ökologischen Landbau? Oder müssen wir uns anders ernähren?
Wir brauchen Veränderungen an vielen Stellen. Es gibt aber nicht die eine Stellschraube – und dann ist alles gut. Nachhaltiger Anbau ist wichtig, aber wir brauchen gleichzeitig auch eine Steigerung der Produktion und mehr Produktivität. Wenn wir einseitig auf Ökolandbau setzen, sinken die Erträge.
Was bedeutet das genau?
Es genügt nicht, einfach nur auf Düngemittel zu verzichten, wie das manche fordern, zumal ihr Einsatz in vielen Gegenden Afrikas mit ausgelaugten Böden wichtig ist. Sondern wir müssen sehr viel gleichzeitig angehen.
Welche Maßnahmen empfehlen Sie?
Wo große Mengen an chemischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln eingesetzt werden, müssen wir den Einsatz reduzieren. Gleichzeitig müssen wir Innovationen zulassen, die hohe Erträge mit weniger Chemie erlauben, Bewässerung optimieren, bessere Vermarktungswege erschließen und schließlich unsere Ernährung umstellen, um einige der wichtigsten Punkte zu nennen. Erst mit einer Kombination an Maßnahmen wird es uns gelingen, auch zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Heute hungern etwa 800 Millionen Menschen, rund drei Milliarden Menschen haben zwar genug zu essen, aber nicht genügend Nährstoffe, um gesund zu leben. Wenn wir das Ernährungssystem nicht insgesamt ändern, verschärft sich die Lage weiter.
Stichwort Ernährung: Würde es helfen, wenn wir weniger Fleisch und mehr pflanzliche Nahrung konsumieren würden?
Ja. Ich bin ein Verfechter von pflanzenbasierter Nahrung. Aber das wird uns nicht allein die Lösung bringen. So wünschenswert das wäre, wir müssen an der Stelle realistisch bleiben: Die Welt wird sich in absehbarer Zeit nicht vegetarisch oder vegan ernähren. In vielen Ländern wächst der Appetit auf Fleisch. Diese Gewohnheit zu brechen, ist schwer und wird dauern.
Wir müssen also keinen Verzicht üben?
Ein Stück weit schon, aber das allein reicht eben nicht. Die Herausforderung, alle Menschen ausreichend und ausgewogen zu ernähren, ist so groß, dass wir es uns nicht erlauben können, in Lagern zu denken. Es gibt keinen Kunstgriff, mit dem wir das Problem lösen können. In Wirklichkeit brauchen wir den Verzicht beim Fleisch, aber auch vielfältigere Fruchtfolgen: etwa, um tierische Eiweiße zu ersetzen, zum Beispiel in Form von Bohnen oder Linsen. Zudem müssen wir Gentechnik zulassen und neue Sorten züchten. Nur all das zusammen wird uns in die Lage versetzen, nachhaltig und ausreichend Lebensmittel zu produzieren.
Welche Bedeutung haben die Kleinbauern auf der Welt, die mit weitem Abstand die Mehrheit aller Höfe stellen?
Sie spielen eine große Rolle. Auch hier sollten wir die Sache aber nicht einseitig und vor allem nicht zu romantisierend betrachten. Subsistenzwirtschaft genügt nicht, sondern auch auf kleinen Höfen sollte effizient und marktorientiert gewirtschaftet werden. Hier brauchen wir einen Innovationsschub. Einige Kleinbauern beziehungsweise deren Kinder werden andere Jobs finden und aus der Landwirtschaft ausscheiden. Langfristig sollte die durchschnittliche Betriebsgröße in Afrika und Asien nicht mehr bei einem, sondern vielleicht bei zehn Hektar liegen und zugleich die Produktivität je Hektar deutlich zunehmen.
Was kann eine Organisation wie die GIZ tun, um den benötigten Wandel beim Ernährungssystem zu unterstützen?
In Afrika zum Beispiel ist das heutige Potenzial in der Landwirtschaft noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Selbst mit den bisherigen Techniken und Geräten ließen sich die Erträge verdreifachen. Mit neuen Technologien wäre das Potenzial noch größer und nachhaltiger. Dafür bräuchte es vor allem einen besseren Zugang zu Märkten, zu Informationen und zu Ausbildung. Hier könnte sich Deutschland noch stärker engagieren.
Alle Krisenfaktoren zusammengenommen – müssen wir uns auf weiter steigende Nahrungsmittelpreise einstellen?
Wir müssen uns in der Tat längerfristig auf hohe Nahrungsmittelpreise einstellen. Das trifft die Armen besonders hart, die ohnehin schon 60 bis 70 Prozent ihres Einkommens für Essen ausgeben. Hier muss sozial unterstützt werden. Aber ich gehe derzeit nicht davon aus, dass die Preise sprunghaft weiter nach oben schnellen. Jedenfalls nicht, solange nicht weitere einschneidende Krisen dazukommen.
November 2022