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Projektfotos mit Marlen Thieme in Sierra Leone Loeffelbein/ Welthungerhilfe
Interview

„Mit Kürzungen erreichen wir weder Frieden noch Stabilität“

Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sind auch für Deutschlands Stabilität und seine Rolle in der Welt wichtig, findet die Präsidentin der Welthungerhilfe. Marlehn Thieme erklärt im Interview, wie GIZ und Welthungerhilfe gemeinsam etwas voranbringen und wo es Hürden gibt.

Interview: Silke Schuck

Frau Thieme, weltweit beobachten wir eine Zunahme von gewaltsamen Konflikten und Krisen. Welche Herausforderungen verbinden Sie damit?

Gewaltsame Konflikte und Krisen erzeugen weitere Konflikte und Krisen. Wir haben weltweit einen Höchststand von 120 Millionen geflüchteten Menschen, und wir wissen, dass mehr als 730 Millionen Menschen chronisch Hunger leiden. Das ist erschreckend, denn gerade in ländlichen Gebieten im Globalen Süden verschärft der Mangel an Nahrung und Wasser die Lebensbedingungen der Menschen. Dazu kommt der Klimawandel, der die Landwirtschaft massiv beeinträchtigt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit stehen in solchen fragilen Ländern vor enormen Herausforderungen. Gleichzeitig kürzen viele Geberstaaten die Budgets für beide Bereiche. Zudem werden Arbeitsbedingungen für Organisationen durch bürokratische Einschränkungen schwieriger – zum Beispiel bei der Vergabe von Visa oder Arbeitserlaubnissen. Der Zugang etwa nach Gaza oder in den Sudan ist schwierig beziehungsweise gar nicht möglich. Und die Sicherheit der Mitarbeiter*innen ist häufig gefährdet. Die Zahl der getöteten humanitären Helfer*innen ist so hoch wie nie.

Was können Organisationen wie die Welthungerhilfe und die GIZ leisten, um solchen Herausforderungen zu begegnen?

Das Wichtigste ist der Kontakt zu den Menschen vor Ort, vor allem in den abgelegenen Gebieten, wo meist die von Armut und Hunger am stärksten betroffenen Menschen leben. Deren Bedürfnisse müssen im Vordergrund stehen, um die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe zurückzudrängen und Resilienz zu fördern, so dass sich die Menschen selbst helfen können. Oft reicht es schon, einen Bewässerungskanal zu reparieren, eine Straße instand zu setzen oder Hütten wieder aufzubauen. Aber auch landwirtschaftliche Geräte oder Saatgut sind wichtig, ebenso wie Weiterbildungsangebote oder berufliche Bildung. So können die Menschen sich ernähren und Arbeit finden. Das gibt ihnen Hoffnung, Selbstständigkeit, und sie blicken auch nach Katastrophen wieder zuversichtlich nach vorne.

Welthungerhilfe und GIZ kooperieren in fragilen Ländern wie beispielsweise Mali oder Madagaskar. Dabei werden die entwicklungspolitischen Ansätze wie Übergangshilfe, strukturbildende Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierung verzahnt. Was ist das Besondere an dieser Zusammenarbeit?

Dass sie sich sinnvoll ergänzt. Die koordinierte Zusammenarbeit zwischen einer staatlichen Organisation wie der GIZ und einer Nichtregierungsorganisation wie der Welthungerhilfe (WHH) ist nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit vor allem in fragilen Kontexten. Da sind außer uns kaum große Organisationen vertreten. Sowohl GIZ wie auch WHH sind in ihren Bereichen unglaublich gut vernetzt. Während wir beispielsweise in den abgelegenen ländlichen Gemeinden hören und sehen, was dort gebraucht wird, berät die GIZ schwerpunktmäßig die lokalen, regionalen und nationalen Behörden. Dadurch können die Maßnahmen ergriffen werden, die von der Übergangshilfe zum Aufbau von stabilen und lebenswerten Lebensbedingungen führen.

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Marlehn Thieme Papsch/Welthungerhilfe

Marlehn Thieme ist seit 2018 Präsidentin der Welthungerhilfe (WHH). Die Juristin hat unter anderem die Bundesregierung im Rat für Nachhaltige Entwicklung beraten.

„Wenn Deutschland die humanitäre Hilfe und die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit deutlich reduziert, senden wir dem Globalen Süden und weltweit ein fatales Signal.“

Marlehn Thieme
Präsidentin der Welthungerhilfe

Können Sie Beispiele nennen?

Solche Kooperationen können beispielsweise dazu dienen, dass eine große Organisation wie die GIZ es mit modernster Technologie möglich macht, Vorhersagen über drohende Überflutungen oder Trockenheit zu treffen. Als Welthungerhilfe können wir auf dieser Basis Menschen unterstützen, entsprechende Vorsorge zu treffen, also beispielsweise Vorräte anzulegen, Dämme zu bauen, das Vieh sicher unterzubringen. Oder nehmen wir die Zusammenarbeit bei der Einkommenssicherung in Mali, wo es an Arbeitsmöglichkeiten mangelt. Während wir kurzfristige Einkommensmöglichkeiten schaffen, mit denen sich Binnenvertriebene, Geflüchtete und Einheimische über Wasser halten können, arbeitet die GIZ mit Ausbildungszentren und Ämtern zusammen, um langfristig bessere und stabile Perspektiven für diese Zielgruppe auf dem lokalen Arbeitsmarkt zu schaffen.

Was benötigen entwicklungspolitische Akteure, um diese Wirkungen insbesondere in fragilen Kontexten auch künftig erzielen zu können?

Wir brauchen mehrjährige Finanzierungszusagen, keine Kürzungen. Deutschland hat als zweitgrößter humanitärer Geber eine besondere Verantwortung. In dem Moment, wo wir diese humanitäre Hilfe wie auch die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit deutlich reduzieren, senden wir dem Globalen Süden und weltweit ein fatales Signal. Nämlich, dass wir nicht mehr an diesen Ländern interessiert sind. Und auch kein verlässlicher Partner in der Not sind. Wenn wir im Krisenfall nicht helfen, entstehen Folgekrisen. Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe. Das kann zu einer Radikalisierung der Menschen vor Ort führen, die aus Not, vielleicht auch aus Wut, anfällig werden für terroristische Gruppierungen. Mit Kürzungen erreichen wir weder Frieden noch Stabilität – auch nicht für Deutschland.

Gemeinsam in fragilen Kontexten

Um Menschen in fragilen Ländern oder Regionen wirksam und effektiv unterstützen zu können, arbeitet die GIZ mit Partnern zusammen, darunter staatenübergreifenden Organisationen wie dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs). Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der frühzeitigen Verknüpfung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung, dem sogenannten „Humanitarian-Development-Peace Nexus“ (HDP-Nexus). Dazu gehören die Integration von Flüchtlingen sowie eine systematische Unterstützung aufnehmender Gemeinden.