Deutschlands Verantwortung

Was die Welt erwartet

Es gibt immer mehr Bewegung im internationalen Geschehen. Die USA ziehen sich als Führungsmacht des Westens zurück, die EU ist angeschlagen. China setzt als aufstrebender weltpolitischer Akteur eigene Akzente, die BRICS-Staaten verlangen einen Platz am Tisch der Mächtigen. Der indische Parlamentarier und Schriftsteller sowie frühere UN-Diplomat Shashi Tharoor schildert in diesem Essay seinen ganz persönlichen Blick auf die internationale Bühne und die Rolle, die Deutschland seiner Ansicht nach dort spielen sollte.

Illustrationen: Florian Bayer
Illustrationen: Florian Bayer

Wir erleben ein globales Durcheinander, Turbulenzen allerorten – und es stellt sich die Frage, was genau eigentlich Deutschlands Rolle darin ist. Was erwartet die Welt vom wirtschaftsstärksten Land Europas? Klar erkennbar sind mehrere Handlungsstränge: Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen die Aufgaben einer globalen Führungsmacht nicht länger übernehmen – sie gebärden sich zunehmend protektionistisch und fremdenfeindlich. Das aufsteigende, starke China sieht den Weltmarkt als Grundlage für weiteres Wachstum und fortgesetzten wirtschaftlichen Erfolg. Die EU ist durch den Brexit und die unkalkulierbaren Folgen mehrerer Wahlen, wie 2018 zum Beispiel in Italien und Ungarn, erschüttert. Mittendrin Deutschland, das dabei ist, sich zur Stütze und zum Garanten eines liberalen und demokratischen Europas zu entwickeln. Keine Frage: Deutschland sollte sich gemeinsam mit der übrigen Welt bemühen, die Turbulenzen in den Griff zu bekommen. Es sollte helfen, China in der Weltgemeinschaft zu halten, Europa aus seinen aktuellen Schwierigkeiten zu führen und die Grobheit, Achtlosigkeit und auch das mürrische Gehabe der Trump-Administration auszugleichen.

IN DIESEM BEITRAG

 

1. Die Ausgangslage
Wie sich die Weltordnung verschiebt und welche Fragen das aufwirft.

 

2. Die Anderen
Welche Akteure eine vorrangige Rolle auf internationalem Parkett spielen, wenn es um die globale Entwicklung geht.

 

3. Die Zukunft
Was aus diesen Beobachtungen für die Rolle Deutschlands folgen kann.

Stabilität der Regierung muss sich erst erweisen

Selbstverständlich ist das – gleich woran gemessen – eine große Aufgabe, nicht zuletzt für ein Deutschland, das nach langwierigen Koalitionsverhandlungen erst im März 2018 eine Regierung gebildet hat, deren Stabilität und Popularität sich noch erweisen muss. Gleichwohl hegen Beobachter in aller Welt keinerlei Zweifel da­ran, dass Deutschland ein starker und verlässlicher Akteur sein muss, wenn die Welt künftig erfolgreich ihren Weg durch die Turbulenzen finden soll, die unsere Gegenwart so sehr kennzeichnen.

SHASHI THAROOR war von 2002 bis 2007 einer der Stellvertreter des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Der 1956 in London geborene Jurist, Schriftsteller und Politiker zählt zu den wichtigsten indischen Publizisten der Gegenwart. Für sein Werk „Der große Roman Indiens“ erhielt er den bedeutendsten Literaturpreis Indiens und den Commonwealth Writers’ Prize. Als indischer Parlamentarier ist er Vorsitzender des Komitees für auswärtige Angelegenheiten. 2014 hat er an der GIZ-Studie zu Deutschlands Wahrnehmung in der Welt teilgenommen.
SHASHI THAROOR war von 2002 bis 2007 einer der Stellvertreter des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Der 1956 in London geborene Jurist, Schriftsteller und Politiker zählt zu den wichtigsten indischen Publizisten der Gegenwart. Für sein Werk „Der große Roman Indiens“ erhielt er den bedeutendsten Literaturpreis Indiens und den Commonwealth Writers’ Prize. Als indischer Parlamentarier ist er Vorsitzender des Komitees für auswärtige Angelegenheiten. 2014 hat er an der GIZ-Studie zu Deutschlands Wahrnehmung in der Welt teilgenommen.

Viele der großen Fragen unseres Planeten scheinen reif für eine verlässliche deutsche Antwort zu sein. So ist eine Art Doppelreaktion gegen die Globalisierung zu beobachten: eine wirtschaftliche in vielen Ländern des Westens, die sich – anders als Deutschland – eher als Verlierer denn als Gewinner einer globalisierten Weltwirtschaft sehen. Und eine kulturelle Gegenreaktion auf Weltoffenheit und Zuwanderung im Namen eines in vielen Ländern tief verwurzelten, quasi „ursprünglichen“ Nationalismus. Da ist auf der einen Seite der vermeintlich unkontrollierbare Zustrom von Flüchtlingen, der in vielen Ländern eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit auslöst – und auf der anderen Seite Deutschland, das in einem seltenen Beispiel für Konsequenz und Mitgefühl seine Türen für sehr viele Menschen geöffnet hat. Überdies stellt es eine Herausforderung für die Demokratie dar, dass immer mehr Menschen, vor allem Angehörige der „Generation Y“, den Wert der Demokratie bezweifeln, wie Umfragen zeigen. In einer aktuellen Studie kommen die beiden Harvard-Wissenschaftler Yascha Mounk und Roberto Stefan Foa zu dem Ergebnis, dass der Rückhalt für die Demokratie in ebenso bemerkenswerter Weise schwindet wie die Geduld mit dem demokratischen Prozess.

Die Demokratie wird auch herausgefordert durch die umfassende Gegenbewegung gegen Globalisierung und Weltoffenheit, die wir überall beobachten. Deren hässliches Nebenprodukt ist die Ausbreitung von Patriotismus und Konformität – als neuem Emblem von Zugehörigkeit. Der weltweit wachsende, teilweise offiziell angeordnete Nationalismus ist ein verblüffendes Phänomen unserer Zeit.

„Viele der großen Fragen scheinen reif für eine verlässliche deutsche Antwort zu sein.“

Verfechter liberaler und demokratischer Werte

Zu Beginn des Jahrhunderts sah es so aus, als sei die Globalisierung nicht mehr aufzuhalten. Nationale Grenzen schienen durchlässiger denn je und Staaten traten ihre Souveränität zunehmend an Organisationen wie die EU ab – oder an regionale und globale Handelsabkommen unter Leitung der Welthandelsorganisation sowie an Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof. Eine derart abrupte Umkehr dieser Entwicklung in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des Jahrhunderts konnte niemand vorhersehen. Deutschland, das auf diesen Feldern mit ruhiger und sicherer Hand agiert hat, ist in einer bemerkenswert guten Position, die Welt durch diese Krise zu führen. Denn nach Ansicht vieler anderer Länder hat es von der Globalisierung profitiert, ohne sich selbst untreu zu werden.

Deutschland gilt weltweit als engagierter Verfechter liberaler und demokratischer Werte, die sich das Land nach den Gräueln des Dritten Reiches erst wieder zurückerobern musste, und als Hüter freiheitlicher Prinzipien im Herzen Europas. Die Welt erwartet nun, dass es seiner Mission auch treu bleibt. Das Land darf keinesfalls müde werden, ein Beispiel für Demokratie, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte zu sein – gerade wenn es möchte, dass andere diese Werte übernehmen. Denn es sind Werte, denen sich bekanntlich nicht alle Länder der Welt wirklich verpflichtet fühlen.

China und Deutschland in einer Umarmung?

Ein Land, das für eine andere Herangehensweise an die Welt steht – autoritär, zentralistisch und doch um den Wohlstand seines Volkes bemüht –, ist China. Einige Beobachter sehen China und Deutschland in einer Art Umarmung, die aus der gegenseitigen Wahrnehmung erwächst, sie seien die wichtigsten Länder der modernen Welt: Die Wortführer des Ostens und des Westens in einem neuen Konzert der Nationen, das die von den USA nach 1945 geschaffene Weltordnung ersetzen könnte. Angesichts des sogenannten „Trump-Vakuums“ seit dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen von 2015 gibt es gute Gründe für Deutschland und China, sich als zwei verantwortliche Nationen zusammenzutun, um den Ausfall Amerikas zu ersetzen. Auf dem G-20-Gipfel in Hamburg erklärte Angela Merkel, „in einer Zeit globaler Unsicherheit“ müsse die deutsch-chinesische Partnerschaft vertieft werden.

Nach den Prinzipien des Westfälischen Friedens

Allerdings ist Deutschland, so nehme ich an, sich durchaus bewusst, dass eine Partnerschaft zwischen Merkel und Xi nicht überall auf der Welt geschätzt würde. Anders als die USA sieht sich Deutschland nicht als geopolitischen Rivalen Pekings, weiß aber um das Misstrauen, das Süd- und Südostasien gegenüber China hegen: wegen seiner strategischen Ziele, wegen seiner Neigung, Ansprüche auf Kosten anderer Länder in der Region geltend zu machen, und wegen seiner Bereitschaft, diese Ansprüche mit militärischem Muskelspiel zu unterstreichen (wie im Südchinesischen Meer, an seiner Grenze zu Indien und in jüngster Vergangenheit entlang seiner Grenze zu Bhutan im Himalaya). Seit Präsident Trump das Freihandelsabkommen TPP, das einen US-zentrierten Freihandelsblock aus Pazifik-Anrainerstaaten von Chile bis Vietnam geschaffen hätte, aufgegeben hat, gibt es eine Möglichkeit weniger, die chinesischen Ambitionen in eine umfassende Partnerschaft einzubinden. Diese Lücke kann Deutschland allein nicht füllen.

„Deutschland sollte anerkennen, dass es bei der Stärkung globaler, multilateraler Institutionen eine Schlüsselrolle spielt.“

Aber Deutschland sollte anerkennen, dass es bei der Stärkung multilateraler Institutionen eine Schlüsselrolle spielt. Diese globalen Lenkungsinstitutionen sind es, die den Frieden bislang bewahrt haben – Institutionen, die sich ändern und anpassen sollten und die entschlossen und energisch geschützt werden müssen. Die Welt, wie wir sie kennen, ist weitgehend nach den Prinzipien des Westfälischen Friedens – Souveränitätsprinzip, Territorialprinzip, Legalitätsprinzip – geformt. Aber das Erstarken Chinas, befördert durch wirtschaftlichen Erfolg, militärische Stärke und ein neuerliches Bestreben, seine „Hard Power“ einzusetzen, kann diese Prinzipien leicht außer Kraft setzen.

Demokratie verteidigen – auch wenn es eng wird

Globalisierung und engere wirtschaftliche Beziehungen haben Nationen einander nähergebracht, weil sie ihnen Vorteil verschafften. Wenn aber das System selbst in Schwierigkeiten gerät, beginnen seine Mitglieder, ihre eigenen, enger gesteckten Interessen zu verteidigen – und schon richten sich ihre Erwartungen an die Globalisierung gegen das Phänomen als solches. Deutschland muss an der Spitze eines nachhaltigen Engagements stehen, das sich zur Globalisierung als einem Win-win-Angebot an alle Nationen der Welt bekennt, das die EU als zukunftsfähige wirtschaftliche Kraft und Bollwerk der Demokratie bewahrt und das China dauerhaft als Teil der Weltgemeinschaft betrachtet. Es ist schlimm genug, dass sich die Vereinigten Staaten von der Welt abwenden. Aber eine zerfallende EU und ein China, das vom Westen abgelehnt wird und maßgebliche globale Institutionen misstrauisch betrachtet, könnten die Welt in eine echte Katastrophe führen.

Die jährliche internationale Expertenbefragung durch das Weltwirtschaftsforum weist auf einige interessante Veränderungen hin. Normalerweise nennen Teilnehmer, nach den größten Bedrohungen der internationalen Stabilität befragt, einzelne Problemfelder wie den Klimawandel. In letzter Zeit lauten die Antworten stattdessen Einkommensungleichheit, Migration und zwischenstaatliche Konflikte – konkrete Probleme mittlerweile vieler Länder des Westens. Deutschland hat Antworten auf all diese Fragen und kann Beispiele nennen, aus denen andere lernen können.

„Deutschland könnte den Anstoß dazu geben, aufstrebenden Mächten Platz zu machen in einer neuen globalen Ordnung, die jene Werte bewahrt, denen Deutschland großes Gewicht beimisst.“

Das zeigt sich an der Reaktion auf frühere Globalisierungsprozesse seitens der Länder, die aufgrund ihrer wachsenden weltweiten Bedeutung Anerkennung einfordern und seit längerem von den alten Kräften verlangen, ihnen am Tisch der Mächtigen Platz zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – ursprünglich die Länder, deren schnell wachsende Volkswirtschaften die Größe und Überlegenheit der „vornehmen“ G7 infrage stellten. Tatsächlich haben Brasilien, Russland und Indien in den vergangenen 15 Jahren das kleinste G7-Land Italien mit Blick auf das Bruttoinlandsprodukt eingeholt. Und China hat auf dem Weg zur zweitgrößten Weltwirtschaft Japan überholt. Das nominelle Gesamt-BIP der BRICS-Länder ähnelt dem der EU sowie dem der Vereinigten Staaten und wird aller Voraussicht nach in nicht allzu ferner Zukunft beide überholen. Im Jahr 2040 wird das Gesamt-BIP der BRICS-Staaten einen größeren Teil des Welt-BIP ausmachen als das der ursprünglichen G7-Staaten.

Was aber ist es, das die Nationalstaaten der BRICS-Gruppe in ihrer organisierten „Rebellion“ gegen die globale Ordnung zusammenhält? Tatsächlich haben alle BRICS-Staaten ein wichtiges Merkmal gemein: Von dem Platz in der bestehenden Weltordnung, den sie ihrer Ansicht nach verdienen, sind sie ausgeschlossen. Die Verweigerung der ihnen ihrer Ansicht nach auf der Weltbühne zustehenden Rollen durch die dominierenden Mächte erweist sich als potenter Klebstoff, der die Gruppierung zusammenhält und der sie bis zu einem gewissen Grad dazu bewegt, nach Alternativen zu suchen.

An der Erhaltung der Weltordnung hat aber Deutschland maßgeblichen Anteil. Das Land könnte den Anstoß dazu geben, dass westliche Demokratien aufstrebenden Mächten Platz machen in einer neuen globalen Ordnung, die diejenigen Institutionen und Werte bewahrt, denen Deutschland großes Gewicht beimisst.

„Letzten Endes ist völlig klar, dass das globale System reformiert werden muss – und zwar bald, wenn es sich an die Erschütterungen, die wir gerade erleben, anpassen und sich neu erfinden soll.“

Deutschland kennt einen besseren Weg als Mauern

Letzten Endes ist völlig klar, dass das globale System reformiert werden muss – und zwar bald, wenn es sich an die Erschütterungen, die wir gerade erleben, anpassen und sich neu erfinden soll für eine sich wandelnde Welt.

Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängten die Vereinigten Staaten Großbritannien und führten die Welt aus der Ära der „Pax Britannica“ in die der „Pax Americana“. Gemeinsam mit ihren Verbündeten schufen sie eine neue Weltordnung – ebenjene, die jetzt ins Wanken gerät. Nun, da sich mit China offenbar eine andere Macht anschickt, eine Vorrangstellung in der Welt einzunehmen, müssen die Regeln völlig neu definiert werden, was die Verhältnisse natürlich in ein gewisses Ungleichgewicht bringt.

Wie die Welt mit diesem Ungleichgewicht umgeht, bleibt abzuwarten. Mauern zu bauen und den Blick nach innen zu richten, was Trump und einige andere am liebsten tun, geht nicht in die richtige Richtung. Deutschland kennt einen besseren Weg – und die Welt blickt nach Berlin, damit es ihn uns weist.

aus akzente 2/18

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