Essay China

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Noch gelten die USA als die globale Führungsmacht, aber der Aufstieg Chinas ist unaufhaltsam. Warum das so ist und wie der Westen darauf reagieren sollte, beschreibt China-Experte Professor Eberhard Sandschneider.

An China scheiden sich die Geister. Über kaum ein anderes Land auf der Welt wird in westlichen Debatten so kontrovers diskutiert wie über das „Reich der Mitte“. China-Begeisterung und China-Skepsis halten sich seit Jahrzehnten in einer intensiven und kontroversen Debatte die Waage. Das galt schon während der drei Jahrzehnte, die auf den Sieg der Kommunistischen Partei im Jahre 1949 folgten. Durch den „Aufstieg Chinas“, wie er Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts unter Deng Xiaoping begann, haben diese Debatten noch an Intensität und gelegentlich auch an Schärfe gewonnen.

Die beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung Chinas ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die westliche Welt kopfsteht. Wenn auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos der Führer eines kommunistischen Systems staunenden Managern verkündet, er wolle sich für freien Welthandel einsetzen, während der amerikanische Präsident als Repräsentant der sogenannten freien Welt genau gegenteilig handelt, haben sich offensichtlich Parameter verschoben.

Illustrationen: Florian Bayer

 Aber Chinas Aufstieg findet nicht im luftleeren Raum statt. Er markiert zugleich einen geopolitischen Umbruch, der die vom Westen dominierte Weltordnung abzulösen scheint. Dieser Umbruch geht mit der schwierigen Aufgabe einher, Chinas Aufstieg richtig einzuschätzen, um keine Fehler im Umgang mit diesem Land und seinem wachsenden globalen Einfluss zu machen. Allerdings war der Blick des Wes­tens auf China in den letzten 40 Jahren immer wieder von erheblicher Fehlwahrnehmung geprägt.

Einerseits fasziniert China. Andererseits zeigen die Debatten im Westen häufig eine ausgesprochene Kompetenzlücke in Bezug auf seine Politik, Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Wir wissen wenig über China, obwohl wir fast täglich etwas über das Land hören und lesen. Wir beschäftigen uns mehr mit unseren Erwartungen und Ängsten als mit den tatsächlichen Triebkräften chinesischer Politik. An vier Beispielen kann man diese Beobachtung verdeutlichen:

„Wir beschäftigen uns mehr mit unseren Erwartungen und Ängsten als mit den Trieb­kräften chinesischer Politik.“

In den späten siebziger Jahren, als Chinas Reformpolitik begann, bezweifelte man im Westen, ob so etwas wie „Reformen“ in einem kommunistischen System überhaupt denkbar wären. Damals waren sich Chinakenner weitgehend einig: Kommunistische Systeme können alles Mögliche, aber eines mit Sicherheit nicht: Wohlstand schaffen. Belege aus der Sowjetunion, aus Mittel- und Osteuropa und nicht zuletzt der DDR gab es zur Genüge. Doch es kam anders. In den letzten 40 Jahren hat China in der Tat Wohlstand geschaffen – und ist dennoch ein kommunistisches System geblieben. Hunderte Millionen von Menschen aus der absoluten Armut zu befreien, zugleich Millionäre und Milliardäre hervorzubringen, hatten wir einem kommunistischen System nicht zugetraut. Aber China hat es geschafft, wir haben uns getäuscht.

Stetiger Aufschwung

Als Nächstes träumten wir angesichts der Öffnung Chinas von einem großen Markt für unsere Unternehmen und Produkte. Dieser Traum wurde wahr. China liefert mittlerweile beeindruckende Zahlen: Im Jahr 2017 beliefen sich das Exportvolumen auf knapp 2,3 Billionen US-Dollar und die Importe auf mehr als 1,8 Billionen US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt erreichte 12,2 Billionen US-Dollar. Trotz des stetigen Aufschwungs der chinesischen Wirtschaft konnten wir uns damals nicht vorstellen, dass chinesische Unternehmen eines Tages zu Wettbewerbern werden würden; zunächst für deutsche Unternehmen in China selbst, danach auf Drittmärkten und schließlich auf unserem eigenen Markt. Es schien normal, Milliarden von Dollar in China zu investieren, aber wir hatten nicht im Ernst erwartet, dass chinesische In­vestoren eines Tages nach Deutschland kommen und in Hidden Champions vor allem in Baden-Württemberg und Bayern investieren würden.

Unsere dritte Täuschung hat mit der politischen Entwicklung Chinas zu tun. Gäbe es in diesem Land, so lautete die Erwartung, erst eine breite Mittelschicht, sei es nur eine Frage der Zeit, bis diese politische Mitsprache einfordere, bis sich die chinesische Gesellschaft pluralisiere und am Ende auch demokratisiere. Davon ist bisher nichts zu sehen. Die Kommunistische Partei regiert nach wie vor unangefochten. Die wenigen Dissidenten spielen eher in westlichen Medien als in China selbst eine Rolle.

Illustrationen: Florian Bayer

Westliche Selbsttäuschung

Und schließlich sind wir einer vierten Täuschung erlegen, die Ausdruck unserer Selbstüberschätzung ist: Wir haben geglaubt, wir könnten China in die Regeln und Institutionen der von uns, dem Westen, dominierten liberalen Weltordnung einbinden. Der berühmte Satz des amerikanischen Politikers Robert Zoellick, China solle ein „responsible Stakeholder“ – ein verantwortlicher Akteur – werden, dokumentiert diese Selbsttäuschung des Westens beispielhaft. China ist ein „responsible Stakeholder“. Aber die Definition davon ist eine chinesische und keine westliche. Warum sollte China auch tun, was in unserem und nicht in seinem eigenen Interesse liegt?

Die simple Schlussfolgerung lautet: China lässt sich weder einbinden noch eindämmen. Das Land ist zu groß und mittlerweile wirtschaftlich viel zu einflussreich, als dass es sich von außen Regeln seines globalen Verhaltens diktieren lassen müsste. Es wird uns also nichts anderes übrigbleiben, als mit einem immer selbstbewussteren und aktiveren China in der internationalen Politik möglichst konstruktiv umzugehen.

Keine Kompromisse

Doch wie erklären sich Chinas Stärke und seine Erfolge, und wie sehen seine daraus resultierenden globalen Ambitionen aus? Etwas allgemein gesprochen, liegt Chinas Geheimnis in der konsequenten Anwendung eines Prinzips, das der Vater der Reformpolitik, Deng Xiaoping, in folgende Metapher gekleidet hat: Es sei egal, ob eine Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache, sie fange Mäuse.

Oberste Priorität hat der Erhalt der Souveränität des chinesischen Staates. Bei Xinjiang, Tibet, Taiwan oder im Südchinesischen Meer kennt China keine Kompromisse und keine Kooperationsbereitschaft. Die zweite strategische Priorität lautet: politische Stabilität. Wer mit China über die Rolle von Dissidenten, Menschenrechtspolitik, die Öffnung des chinesischen Marktes oder das Tempo von Reformschritten verhandeln will, trifft auf einen Partner, der sich erst dann bewegt, wenn er abschätzen kann, dass das eigene politische System nicht darunter leidet.

„China befindet sich mitten in einem Prozess, in dem es seine Rolle in der Welt neu definiert und das Wirtschafts- und Lebensmodell des Westens herausfordert.“

Als dritter Schwerpunkt folgt: den ökonomischen Wachstumskurs fortsetzen. Er ist essenziell für die Legitimität der Kommunistischen Partei. Auch hier kennt China keine Kompromisse, trotz aller Probleme, die das beispiellose Wachstum in den vergangenen 40 Jahren mit sich gebracht hat. Und schließlich folgt viertens der konsequente Ausbau von Chinas globalem Einfluss. China befindet sich mitten in einem Prozess, in dem es seine Rolle in der Welt neu definiert und das Wirtschafts- und Lebensmodell des Westens herausfordert.

Chinas Kommunis­tische Partei verfolgt unter Präsident Xi Jinping eine Strategie der Verdrängung des Westens, insbesondere der USA. Gestützt auf strategische Geduld, Pragmatismus, wirtschaftliche Leistung und disruptive Technologien will das Land spätestens bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts zum mächtigsten und einflussreichsten Land der Welt aufsteigen. Kein chinesischer Politiker gibt das (bisher) offen zu, aber die Signale sind klar erkennbar. Im Westen will man das offenbar nicht wahrhaben, deutet entsprechende Hinweise als Propaganda, macht sich das wachsende chinesische Selbstbewusstsein mit all seinen Folgen nicht bewusst.

Globale Ambitionen

Drei Beispiele verdeutlichen dies: Chinas zunehmend dominante Rolle in Afrika irritiert westliche Beobachter schon seit Jahren und fordert die westliche Entwicklungszusammenarbeit in extremem Maße heraus. China investiert ohne politische Bedingungen in Infrastrukturmaßnahmen, die vor allem einem Zweck dienen: den eigenen Rohstoffhunger zu stillen. Trotzdem hat diese Politik Effekte, die auch der afrikanischen Wirtschaft nutzen und von daher gerne in Anspruch genommen werden. Gelegentliche Kritik, etwa, dass China dabei auftrete wie eine alte Kolonialmacht und nicht genügend lokale Arbeitskräfte zum Einsatz kämen, fällt dann weniger ins Gewicht. Beispiele wie etwa aus Sambia, wo es in der Vergangenheit Aufstände gegen die Arbeitsbedingungen in chinesischen Unternehmen oder auch Kritik an der Übernahme einheimischer Firmen durch China gab, stellen das Gesamtbild nicht infrage.

Ähnliches gilt für Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße. Seit Präsident Xi Jinping im Jahr 2013 die „One Belt, One Road“ oder – wie es heute eleganter heißt – die „Belt and Road Initiative“ verkündete, hat sie sich zu einem geopolitischen Großprojekt entwickelt. Mit einem gigantischen Netzwerk an Infrastruktur, der Erschließung neuer Märkte und der Schaffung neuer Wertschöpfungsketten versucht China, seinen politischen und zunehmend auch militärischen Einfluss über Zentral­asien bis nach Europa auszudehnen und einen Gegenpol zum Führungsanspruch der USA zu bilden. Mit keiner außenpolitischen Initiative macht China seinen globalen Machtanspruch deutlicher.

Illustrationen: Florian Bayer

Gefahr eines Handelskrieges

Daran wird auch der Versuch des amerikanischen Präsidenten Donald Trump nichts ändern, Chinas wachsenden Einfluss mit Hilfe eines Handelskrieges eindämmen zu wollen. Denn in diesem nichtmilitärischen Krieg geht es um weit mehr, als das amerikanische Handelsbilanzdefizit auszugleichen. Dahinter steht die gesamte Palette eines Konkurrenzkampfs zwischen zwei Großmächten, die um die sicherheitspolitische, wirtschaftliche und technologische Führung im 21. Jahrhundert wetteifern.  Diese Auseinandersetzung wäre auch mit einem Ende des Handelskonfliktes nicht beigelegt. Die Frage, wie dieser Konflikt gestaltet und moderiert werden kann, ist entscheidend für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, friedliche Koexistenz und die Lösung anstehender globaler Grundsatzfragen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Chinas Aufstieg wird sich nicht verhindern lassen, außer durch eine schwere innere Krise oder durch Krieg. In den USA wird über Letzteres durchaus diskutiert, in Euro­pa weniger. Ausgeschlossen ist ein solches Szenario jedenfalls nicht völlig: Schon in der griechischen Antike kannte man die „Thukydides-Falle“, die eine militärische Auseinandersetzung zwischen einer auf- und einer absteigenden Macht bezeichnet. Konkret absehbar ist aber derzeit weder eine innere Krise noch eine militärische Auseinandersetzung. Allerdings können unvorhersehbare Ereignisse diese Aussage jederzeit ins Gegenteil verkehren. Insgesamt wären wir gut beraten, Chinas Aufstieg als legitim und gegeben zu betrachten. Seine Bedeutung wird für Deutschland und Europa künftig mindestens ebenso groß sein wie jene der USA in der Vergangenheit.

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