Porträt
Mit einem Kochtopf zum Molkerei-Chef
Es war in gewisser Weise ein Zufall, der Ymer Berishas Erfolgsgeschichte auslöste. Die Familie lebte Mitte der 1970er Jahre in dem malerischen Dorf Miradi e Epërme im Zentrum Kosovos, damals Bestandteil der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Sein Vater war Hausmeister in der örtlichen Molkerei. Eines Tages kam Berisha senior von der Arbeit nach Hause und fragte seine sieben Kinder: „Wer von euch ist demnächst mit der Volksschule fertig?“ Es war der 14-jährige Ymer, der kurz vor dem Schulabschluss stand.
Der Vater hatte erfahren, dass die Molkerei ein Stipendium für eine Fachschule in der 300 Kilometer entfernten serbischen Stadt Pirot vergab. Nach Gesprächen mit seinen Eltern entschloss sich Ymer, die Molkereischule zu besuchen, obwohl er noch so jung war und es die Trennung von seiner Familie bedeutete. Schon damals konnte man die Entschlossenheit und den Mut von Ymer Berisha erahnen. Eigenschaften, die ihn Jahrzehnte später an die Spitze eines der erfolgreichsten milchverarbeitenden Unternehmen Kosovos brachten. Trotz vieler Hürden.
Überleben durch Joghurt
Nachdem Ymer Berisha 1980 mit dem Abschluss von der Fachschule in Serbien zurückgekehrt war, arbeitete er als Molkereitechniker in seiner Heimat. Dann wurde er entlassen. Im Jahr 1989, kurz bevor das Blutvergießen begann, in dem sich das frühere Jugoslawien auflösen sollte, entzog der damalige serbische Präsident Kosovo alle Autonomierechte. Daraufhin folgten unter anderem Massenentlassungen albanischer Beschäftigter und in den Schulen wurden Kinder nach Ethnien getrennt. Es waren unruhige Zeiten. Damals ersuchten Tausende Kosovo-Albanerinnen und -Albaner über Nacht in anderen europäischen Ländern um Asyl. Dort hofften sie auf ein sicheres und besseres Leben. Die kosovarische Diaspora übernahm die Versorgung vieler in der alten Heimat.
Ymer Berisha jedoch folgte einem anderen Drehbuch. Gerade mal eine Woche nach der Entlassung aus der Molkerei nahm er sich einen großen Kochtopf, füllte ihn mit der Milch der Familienkühe und begann, Joghurt daraus herzustellen. „Angefangen habe ich mit dreißig Litern Milch“, sagt er. „Ich war arbeitslos, kannte mich aber mit der Molkerei aus – was hätte ich sonst machen sollen?“ Er erinnert sich noch genau, wie er zwei Nächte lang grübelte, wie es weitergehen sollte. Dann wusste er es: Er goss den Joghurt in kleine Becher und fuhr nach Pristina, in die Hauptstadt Kosovos, wo er sein Produkt dem Besitzer eines bekannten Burek-Imbisses anbot. Bureks sind beliebte Blätterteigpasteten, die gerne mit einem Joghurtdip gegessen werden.
Ymer Berishas Joghurt kam sofort gut an und die Nachfrage auch bei anderen Imbissständen sowie auf lokalen Märkten stieg. Nach und nach fing der Jungunternehmer an, weitere Familienangehörige in der Produktion zu beschäftigen und Milch von Verwandten und Nachbarn dazuzukaufen. Doch sein Unternehmen war zunächst nicht offiziell registriert und wurde mehrmals von der serbischen Polizei geschlossen. 1997 erhielt er endlich eine Lizenz: Bylmeti, übersetzt „Milcherzeugnisse“, wurde offiziell als Unternehmen gegründet – in einem Zimmer seines Wohnhauses. Doch schon kurz darauf zwang der Kosovokrieg auch Familie Berisha in die Flucht. Ihr Haus war niedergebrannt und die gesamte Molkereiausstattung gestohlen.
Wieder bei null anfangen
Als im Juni 1999 der Krieg zu Ende war, kehrte Ymer Berisha in sein zerstörtes Dorf zurück. „Es war ein schlimmerer Anfang als 1990“, sagt er. „Diesmal fing ich nicht nur mit wenig Geld an, ich hatte sogar Schulden.“ Zuvor war sein Unternehmen stetig gewachsen und hatte noch zu Beginn des Krieges täglich bis zu 2.500 Liter Milch verarbeitet. Doch von einem zum anderen Augenblick war alles weg.
Englische Truppen der KFOR-NATO-Mission kreuzten in diesem Sommer den Weg von Ymer Berisha und ermöglichten ihm den ersten Wiederaufbau seiner Produktionsstätten. Der Betrieb konnte mit einer Kapazität von 200 Litern am Tag starten. Auch die GIZ-Vorgängerorganisation, die GTZ, förderte im Auftrag der Bundesregierung kleine kosovarische Unternehmen wie das von Ymer Berisha. Binnen kürzester Zeit organisierte die GTZ damals die dringend benötigten Milchkannen für die kleinen Milchproduzenten in den Dörfern sowie kleine Lastwagen und Verarbeitungsanlagen, um die Produktion anzukurbeln. Mit dieser Unterstützung gelang es dem Familienbetrieb nach und nach, die Kapazität zu steigern. Inzwischen arbeiten 72 Menschen direkt in dem Unternehmen, das 30 verschiedene Milchprodukte herstellt – auch für den Export. Bis zu 400 bäuerliche Betriebe beliefern Bylmeti. Eine beeindruckende Erfolgsgeschichte.
Wenn Ymer Berisha vor seinem Unternehmen in seinem Heimatdorf steht und über sein Leben nachdenkt, kehrt der 60-Jährige gerne zu den Anfängen zurück: „Viele Menschen fragen: ,Wie soll man denn etwas starten, wenn man kein Geld hat?‘ Für mich war es genau umgekehrt. Die Not hat mich gezwungen, nachzudenken und das alles hier anzufangen.“
aus akzente 2/21