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Housing for refugees
Interview

„Eine historische Chance, eine starke Region aufzubauen“

2020 sprach akzente das erste Mal mit Andrij Sadowyj, dem Bürgermeister von Lwiw. Seit der russischen Invasion ist seine Welt eine andere. Eine Bestandsaufnahme.

Interview: Friederike Bauer Fotos: Roman Baluk

Lwiw ist die westlichste Großstadt der Ukraine. Sie wird immer wieder von russischen Raketen getroffen, ist aber im Vergleich zu anderen Städten deutlich sicherer. akzente hatte Lwiws Bürgermeister Andrij Sadowyj vor drei Jahren interviewt – in einer anderen Zeit. Jetzt haben wir wieder mit ihm gesprochen: über die Veränderungen in seiner Stadt und über seinen persönlichen Kampf seit dem Beginn der Invasion.

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Andrij Sadowyj

Ein Bild aus einer anderen Zeit: Lwiws Bürgermeister Andrij Sadowyj vor drei Jahren, als akzente das erste Mal mit ihm über die Zukunft seiner Stadt sprach.

Bürgermeister Sadowyj, Ihre Stadt wird immer wieder Ziel von russischen Raketenangriffen, erst Anfang Juli wieder. Wie ist die Lage bei Ihnen heute?

Hier ist es trotzdem insgesamt sicherer als in anderen Städten der Ukraine. Unsere Kinder gehen zur Schule, an der Universität finden Vorlesungen statt, die Restaurants sind geöffnet, die Wirtschaft kommt wieder in Gang. Es ist eine Art Normalität im Krieg, auch wenn wir weiterhin gelegentlich angegriffen werden.

Seit unserem letzten Gespräch vor fast drei Jahren hat sich die Situation indes dramatisch verändert …

Wir leben unter komplett anderen Umständen. Unser Land befindet sich im Krieg, unser Staatsgebiet ist zum Teil besetzt. Und auch wenn Lwiw im Moment kaum in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt ist, sind wir natürlich betroffen. Wir sind zur humanitären Drehscheibe des Landes geworden. Seit dem Beginn der russischen Invasion sind etwa fünf Millionen Binnenflüchtlinge durch diese Stadt gezogen. An manchen Tagen haben wir zwei Millionen Menschen Zuflucht geboten, von denen einige auf dem Weg in den Westen waren und einige blieben.

Wie viele Menschen leben jetzt zusätzlich in Lwiw?

Heute zählen wir etwa 150.000 Binnenflüchtlinge, die hiergeblieben sind. Hinzu kommen viele Tausend Verwundete – Soldaten, Frauen und Kinder –, die hier Behandlung und Zuflucht suchen. Wir haben also viele Herausforderungen gleichzeitig zu meistern.

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Turnhalle als Bettenlager

Wie sieht es mit der Infrastruktur aus? Haben Sie Wasser und Strom?

Inzwischen ja. Wir haben unsere Versorgungssysteme wiederaufgebaut. Die Stromversorgung läuft normal, wir haben Wasser und Heizung. Und wir haben für künftige Notfälle eine Menge Dieselgeneratoren gekauft.

Wie kommt die Bevölkerung von Lwiw mit dem Zustrom von Vertriebenen und Verwundeten zurecht?

Etwa 99 Prozent unserer Bürger*innen akzeptieren die derzeitige Situation und bieten maximale Unterstützung. Jetzt im Krieg sind wir eine große Familie.

Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, sagten Sie uns, dass Sie Lwiw zu einer grünen Stadt machen wollten. Haben Sie diesen Plan aufgegeben?

Wir haben kein einziges großes Projekt aufgegeben: Wir machen weiter mit einem neuen Industriepark. Wir bauen Wohnungen und eine Recyclinganlage. Und wir werden die Mülldeponie unseren Plänen entsprechend schließen und eine Fabrik bauen, die Biogas produziert. Es ist also nichts aufgegeben worden. Vielmehr verfolgen wir aufgrund der neuen Situation zusätzliche Projekte: Damit meine ich ein neues Rehabilitationszentrum namens „Unbroken“. Wir wollen eine Art Gesundheitsbezirk um ein bestehendes Krankenhaus herum errichten, um all die Menschen zu versorgen, die wegen ihrer Notlage nach Lwiw kommen. Hier wurden bereits mehr als 80.000 Patient*innen behandelt und mehr als 10.000 Operationen durchgeführt.

Ich möchte, dass Lwiw eine westliche, moderne und grüne Stadt wird. Das war schon in der Vergangenheit meine Vision, und das ist sie immer noch.

Andrij Sadowyj
Bürgermeister von Lwiw

Das bedeutet, dass Sie die Gesundheitsversorgung in Lwiw grundlegend verbessern?

Genau. Wir bauen nach und nach ein neues, 25.000 Quadratmeter großes Rehabilitationszentrum mit moderner Ausstattung und ausreichend Platz, um viel mehr Menschen als bisher zu versorgen. Die ersten zusätzlichen 4.500 Quadratmeter sind bereits fertig und in Betrieb, weitere werden folgen. Seit September haben wir dort auch eine Fertigung für Prothesen aller Art eingerichtet, die 100 Stück pro Monat herstellen kann. Wir wollen dies weiter ausbauen und die Produktion erweitern, denn die Nachfrage nach Prothesen ist im ganzen Land enorm. Außerdem planen wir, das Rehabilitationszentrum mit einer neuen Straßenbahnlinie an das Stadtzentrum anzubinden. Sie sehen also, dass wir uns nicht zurücklehnen, sondern unermüdlich daran arbeiten, Lösungen für unsere verschiedenen Probleme zu finden.

Bekommen Sie für all das genügend Mittel von der internationalen Gemeinschaft?

Wir werden von verschiedenen Institutionen wie dem Roten Kreuz, der EU, der Weltbank und von Organisationen wie der GIZ unterstützt. Für unser Rehabilitationszentrum fehlen uns allerdings noch 200 Millionen Euro. Ich hoffe, dass wir mehr internationale Gelder dafür bekommen, denn es ist nicht nur für unsere Stadt, sondern für die Ukraine im Allgemeinen von großer Bedeutung. Hier können die Menschen die Kriegsgebiete hinter sich lassen und ärztlich behandelt werden. Ich möchte, dass Lwiw so bald wie möglich ein medizinisches Zentrum mit dem besten Service des Landes hat. Außerdem soll dieses Versorgungszentrum vollständig mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Wir wollen bis 2050 in der gesamten Stadt völlig unabhängig von fossilen Brennstoffen sein.

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Blackout

Die russische Invasion ist verheerend. Aber können Sie vielleicht auch einen gewissen Nutzen daraus ziehen, indem Sie Ihre Stadt modernisieren?

Das ist mein Ziel. Ich möchte, dass Lwiw eine westliche, moderne und grüne Stadt wird. Das war schon in der Vergangenheit meine Vision, und das ist sie immer noch, auch wenn wir einige der Projektplanungen anpassen mussten. Wir kommen schnell voran, weil wir klare übergeordnete Ziele haben: den Krieg beenden und Mitglied von EU und NATO werden.

Sie sagten damals auch, Lwiw solle sich eines Tages auf einer Ebene mit Berlin, München oder Barcelona befinden. Ist das immer noch Ihr Traum?

Lwiw ist heute bekannter als jemals zuvor. Wir waren in den letzten Monaten ständig in den internationalen Medien. Und wir haben neue Städtepartnerschaften angeboten bekommen, zum Beispiel von Reykjavík. Aber natürlich haben wir noch einen langen Weg vor uns. Der Traum ist so aktuell wie eh und je, aber es wird eine gigantische Aufgabe für uns, ihn zu verwirklichen.

Sie sind seit 2006 Bürgermeister dieser Stadt. Wie hat sich Ihr Leben seit dem 24. Februar vergangenen Jahres verändert?

Seitdem arbeite ich ununterbrochen, ohne einen einzigen freien Tag. Ich kann mir keine Pause gönnen, denn die Menschen an der Front erleben noch viel härtere Tage. Also stecke ich meine ganze Energie in die Arbeit. Und ich bin froh, meinem Land und meiner Stadt zu dienen, denn dies ist ein einzigartiger Moment in unserem Leben. Wir haben die historische Chance, eine starke und unabhängige Region aufzubauen. Zwei Systeme stehen sich gegenüber: das demokratische und das totalitäre. Deshalb zählen jeder Tag und jeder Augenblick. Ich glaube an unseren Sieg, und ich werde von meiner Position und meinem Amt aus alles dafür tun. Aufgeben ist keine Option.