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09/2021
„Klimawandel und Landwirtschaft zusammen denken“

Mit Fragen rund um Hunger und Ernährung beschäftigen sich Christel Weller-Molongua und Jochen Renger als Abteilungs­leiter*innen der GIZ seit vielen Jahren. Im Interview erklären sie, warum die Lage derzeit besonders heikel ist und was Ernährungssysteme stärken kann.

Interview
: Friederike Bauer

Die Corona-Pandemie hat viele Menschen weltweit wieder in den Hunger getrieben. Weiß man inzwischen schon Genaueres über die Auswirkungen?

Christel Weller-Molongua: Die Zahlen sind deutlich gestiegen: Im Jahr 2019 hungerten rund 650 Millionen Menschen, 2020 dann 690 und für 2021 werden rund 810 Millionen erwartet. Das heißt, wir erleben hier einen klaren Rückschlag im Kampf gegen den Hunger.

Welche Gegenden trifft es besonders?

Jochen Renger: Viele Weltgegenden sind betroffen, besonders schlimm ist die Lage allerdings in Afrika südlich der Sahara. Trotzdem erzählen die Zahlen nur einen Teil der Geschichte, denn hinter ihnen stecken Schicksale und Verzweiflung. Die Lage ist dramatisch. Nach unseren Informationen verschlechtert sich die Qualität der Nahrungsmittel; viele Menschen können sich nur noch einseitig ernähren. Es ist aber auch insgesamt weniger Essen verfügbar, weil Lieferketten durch die Pandemie unterbrochen wurden. Dazu kommt der Wegfall vieler Jobs, gerade für Tagelöhner. Dadurch stehen Millionen von Menschen, die vorher schon wenig hatten, nun plötzlich vor dem Nichts. Wenn eine weitere Infektions-Welle kommt, rutschen noch mehr Menschen ab.

Jochen Renger © Blende8  Christel Weller-Molongua © cwm
Jochen Renger © Blende8                                                                             Christel Weller-Molongua © cwm

 

Wie hat die GIZ auf diese Krise geantwortet?

Renger: Wir haben mit einem Sofort-Programm im Auftrag der Bundesregierung reagiert, um die schlimmsten Folgen kurzfristig abzumildern. Dazu gehörten zum Beispiel Schulspeisungen im Jemen, Hygienemaßnahmen, Bereitstellung von Saatgut und Beratung für Produzentinnen und Produzenten über digitale Kanäle. Das war wichtig und hat entlastet, aber wir wollen mit unserer Arbeit langfristig wirken, Strukturen so ändern, dass wir das Übel an der Wurzel packen.

Abgesehen von Corona, was sind die Hauptursachen dafür, dass im 21. Jahrhundert immer noch Menschen hungern müssen? Manche meinen, es seien Kriege und Konflikte – stimmt das?

Weller-Molongua: Fragilität ist sicher ein Haupttreiber. Das sehen wir in Ländern wie dem Jemen, neuerdings in Äthiopien wieder und auch in Afghanistan. Wo Bäuerinnen und Bauern nicht in Ruhe ihre Felder bestellen und Ernte einfahren können, wo Vertriebswege nicht funktionieren, da macht sich schnell Hunger breit. Das ist eindeutig.

Gibt es noch weitere relevante Ursachen?

Weller-Molongua: Ein Faktor, der immer wichtiger wird, ist der Klimawandel. Stärkere Regenfälle und Dürren erleben wir schon seit einigen Jahren, etwa in Mosambik oder am Horn von Afrika. Aber der Klimawandel wird sich in Zukunft noch deutlicher zeigen und die Nahrungsmittelproduktion immer wieder einschränken oder unterbrechen. Dies steht in enger Wechselwirkung mit dem Verlust biologischer Vielfalt. Welche Ausmaße das annehmen kann, haben wir gerade bei den schweren Überschwemmungen in Deutschland gesehen. Und hier muss niemand hungern, weil die Versorgung von außen gesichert ist. Im globalen Süden liegt der Fall anders; dort werden wir extreme Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und auf die Ernährung von Menschen erleben.

Was wiegt mehr: Konflikte oder der Klimawandel?

Renger: Beides sind wichtige Einflüsse, die man nicht gegeneinander aufwiegen kann. Der Klimawandel wird den Hunger auf jeden Fall massiv verschärfen; da stimme ich meiner Kollegin ausdrücklich zu. Der Weltklimarat hat in seinem letzten Bericht fünf Zukunfts-Szenarien beschrieben, von denen selbst das Beste noch eine Katastrophe ist – mit allen negativen Folgen, Hunger inklusive. Nicht ausblenden sollte man in dem Zusammenhang auch das Thema Armut und strukturelle Ungleichheit, die seit einiger Zeit weiter um sich greift und den Hunger verschärft.

Weller-Molongua: Es gibt weitere Faktoren, wie zum Beispiel Nahrungsmittelverluste. Knapp 40 Prozent der produzierten Lebensmittel werden aus den unterschiedlichsten Gründen weggeworfen. Das ist ein gravierendes Problem – und hat durch die Corona-Pandemie noch zugenommen, weil Transportwege unterbrochen waren oder immer noch sind.

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Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Maßnahmen, um gegenzusteuern und die Lage dauerhaft zu verbessern?

Renger: Wir müssen ländliche Entwicklung und Klimafolgen zusammen denken. Das heißt, Menschen und Infrastruktur im ländlichen Raum müssen resilienter werden gegenüber dem Klimawandel, indem man Produktion, Versorgung, Wertschöpfungs- und Lieferketten stärker absichert. Manchmal funktioniert das mit neuen oder anderen Pflanzensorten, manchmal braucht es veränderte Lagermöglichkeiten.

Gibt es weitere Schritte, die Sie für wichtig und sinnvoll erachten?

Renger: Meiner Meinung nach sollten regionale Organisationen so gestärkt werden, dass sie sich dem Thema Ernährung stärker annehmen können und Notlagen selbst ohne internationale Hilfe bewältigen können. Ähnliches gilt auch für die Leistungsfähigkeit einschlägiger Ministerien und Organisationen in den Ländern, und zwar auf allen Ebenen: von Landwirtschaftsministerien bis zu lokalen Kooperativen, damit wir zu funktionierenden Ernährungssystemen kommen.

Weller-Molongua: Es kommt zudem auf gute Wissensvermittlung an. In der Pandemie spielen besonders Fragen rund um Hygiene eine Rolle. Darüber hinaus geht es um Kenntnisse zu Saatgut, Anbaumethoden, Vertriebswege, Lagerung und vieles mehr. Denn inzwischen ist klar: Mit höherer landwirtschaftlicher Produktion allein werden wir den Hunger nicht bekämpfen können. Wir müssen das ganze Ernährungssystem in den Blick nehmen bis hin zur Weiterverarbeitung und dem Konsumverhalten. Dazu haben wir in den vergangenen Jahren viel Erfahrung im Rahmen der Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“, genannt SEWOH, gesammelt. Sie verfolgt ganzheitliche und nachhaltige Ansätze, bei denen neben höheren Erträgen zum Beispiel auch Böden und Zugang zu Land eine Rolle spielen, Agrarfinanzierungen, Jugendbeschäftigung und vieles mehr. Ein weichenstellender Faktor für nachhaltige Wirkung ist es, Frauen aktiv einzubeziehen und zu stärken.

Das Projekt in Zahlen
3,5 Millionen

Menschen hat „Eine Welt ohne Hunger“ dabei geholfen, Hunger und Fehlernährung zu überwinden.

1,1 Millionen

Menschen wurden dabei unterstützt, die Folgen des Klimawandels besser zu bewältigen.

2,5 Millionen

Menschen haben im Zuge der SEWOH-Initiative an Weiterbildungen teilgenommen.

Was konnten Sie dadurch bewirken?

Weller-Molongua:  Wie wichtig solche umfassenderen Ansätze sind, hat sich nicht zuletzt während der Corona-Pandemie gezeigt. Wir können nachweisen, dass Länder, in denen wir mit der SEWOH unterwegs sind, weniger unter den Folgen von Covid-19 zu leiden hatten als andere. Einfach, weil die ländliche Bevölkerung, Bäuerinnen und Bauern, durch ihr neues Wissen und die Veränderungen reaktionsfähiger und resilienter waren.

Stichwort SEWOH – hat sich die Sonderinitiative Ihrer Ansicht nach bewährt?

Renger: Unbedingt. Die SEWOH gibt es seit 2014; sie hat in zwei Legislaturperioden mehr als 200 Projekte in Gegenden umgesetzt, die besonders stark von Hunger betroffen sind, also vor allem in Afrika und Asien. Wir haben über die SEWOH außergewöhnlich schnell Entwicklungserfolge erzielt. 

Weller-Molongua: Die SEWOH hat die ländliche Entwicklung wieder sichtbar gemacht. Davor waren die Mittel dafür stark rückläufig. Mit der SEWOH hat die Bundesregierung ein Zeichen gesetzt und gezeigt: Deutschland engagiert sich im Kampf gegen den Hunger. Inzwischen ist Deutschland der zweitgrößte Geber auf diesem Gebiet. Durch die SEWOH konnten wir alle Räder schneller und innovativer drehen.

Das Projekt in Zahlen
1,4 Mio.

Hektar Fläche wird durch die SEWOH heute nachhaltiger genutzt.

23.000

Kleinbäuerliche Betriebe und Agrarunternehmen haben Zugang zu Kredit- oder Sparprodukten erhalten.

640.000

Kleinbäuerliche Haushalte konnten ihre Einkommen um mindestens 20 Prozent steigern.

Es wird einen Wechsel im Entwicklungsministerium geben. Was erhoffen Sie sich von der neuen Bundesregierung?

Renger: Dass wir die SEWOH, die noch ein paar Jahre läuft, weiterentwickeln, zum Beispiel noch stärker mit agrar-ökologischen Ansätzen arbeiten und Klimaanpassung und Biodiversität in der Landwirtschaft mehr Raum geben.

Weller-Molongua: Mein Wunsch wäre zudem, dass wir zum Beispiel auch Zukunftsthemen aufgreifen wie „aquatic food“ und „blue food“, die das Meer als Nahrungsquelle in den Vordergrund rücken. Den Hunger zu beseitigen, wird durch die steigende Weltbevölkerung nicht einfacher. Wir müssen deshalb alle denkbaren Nahrungsquellen auftun und sie dann nachhaltig nutzen.

Halten Sie das Ziel, den Hunger bis 2030 zu beseitigen, wie es SDG2 vorsieht, heute noch für realistisch?

Renger: Das Ziel ist wahnsinnig ehrgeizig. Aber solche Ziele braucht man. Deshalb sollten wir die Messlatte hoch anlegen und nicht vor der Zeit runtersetzen.

Ziele für nachhaltige Entwicklung
Zu folgenden Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) der Vereinten Nationen trägt das Vorhaben bei:
SDG 1: Keine Armut SDG 2: Kein Hunger SDG 3: Gesundheit und Wohlergehen SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum SDG 12: Nachhaltige/r Konsum und Produktion SDG 13: Maßnahmen zum Klimaschutz