Die Zahl entwurzelter Menschen ist im vergangenen Jahrzehnt stetig gestiegen. Mehr als die Hälfte dieser Menschen sind Binnenvertriebene. Warum werden sie in der Diskussion so oft übersehen?
Geflüchtete sind sichtbarer. Sie überqueren Landesgrenzen, auf sie werden Ängste projiziert, sie werden dämonisiert. Binnenvertriebene bleiben Bürger*innen und Einwohner*innen ihres Landes. Für sie ist weiter die eigene Regierung verantwortlich, aber allzu oft kommt sie dieser Verantwortung nicht nach. Manchmal werden sie sogar zur Zielscheibe – als politische Gegner oder Angehörige einer anderen ethnischen Gruppe. Aus all diesen Gründen brauchen sie Hilfe von außen.
Ist es wegen dieses anderen rechtlichen Status schwieriger für Sie und Ihre Organisation, mit Binnenvertriebenen zu arbeiten?
Es gibt diesen juristischen Unterschied, aber das macht es nicht schwieriger. Wenn Menschen in unzugängliche Gegenden ihres Landes fliehen, wo möglicherweise sogar eine bewaffnete Widerstandsgruppe operiert, dann wird es schwer für uns. Es gibt außerdem eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen – beide leben normalerweise in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Die meisten Geflüchteten sind eben nicht in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Sondern in Ländern wie Bangladesch, Äthiopien, Pakistan, Uganda oder dem Libanon. Und auch Binnenvertriebene leiden unter großer Armut; es ist ja nicht so, als zögen sie wegen eines neuen Jobs von Heidelberg nach Berlin.
Was sind die Hauptgründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen?
Laut unserer Emergency Watchlist 2023 gibt es drei wesentliche Gründe dafür; Konflikte sind der wichtigste. Sie sind für 70 Prozent des humanitären Bedarfs verantwortlich. An zweiter Stelle steht die Klimakrise; der dritte Grund sind aktuelle wirtschaftliche Schocks aufgrund von Faktoren wie Covid, höheren Zinsen oder steigenden Lebensmittelpreisen.
Stimmt es, dass Menschen gern so nah wie möglich an ihrem Zuhause bleiben, weil sie zurückzukehren hoffen?
Ja, Menschen bleiben gern nah an ihrer Heimat, aber richtig ist auch, dass Sicherheit für sie am wichtigsten ist. Wenn sie also von einer Besatzungsarmee, politischer Verfolgung oder kriminellen Gangs bedroht werden, dann steht für sie Sicherheit an erster Stelle. Und wenn das bedeutet, sich weiter von ihrer Heimat zu entfernen, dann tun sie das.
Stehen wir weltweit am Anfang einer neuen Ära erzwungener Migration?
Es gibt derzeit weltweit 54 bürgerkriegsähnliche interne Konflikte, dazu den Krieg in der Ukraine. Die meisten dieser Konflikte sind von längerer Dauer. Also ja: Wir stecken mitten in einem längerfristigen Trend erzwungener Migration. Die 2010er Jahre waren der Beginn einer ansteigenden Welle, nicht ihr Ende.
Und gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Solidarität abnimmt …
Ich sehe da keinen Rückgang oder gar Backlash. Sicher, es gibt rechtsextreme Parteien, die Geflüchtete fernhalten oder loswerden wollen, aber es gibt auch jede Menge Solidarität. Die Lage ist polarisiert. Aber natürlich müssen wir uns Sorgen machen, denn es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.
Wo steht Deutschland hier?
Deutschland zeigt ein bewundernswertes internationales Engagement. Ihr Land leistet bedeutende humanitäre Hilfe und unterstützt klar die multilaterale Ordnung.
Gibt es etwas, das Deutschland noch besser machen könnte?
Deutschland sollte anerkennen, dass sich gute Ergebnisse am ehesten mit flexiblen Prozessen einstellen. Das gilt ganz besonders für fragile Verhältnisse und für Konfliktstaaten. Zweitens ist Deutschland ein wichtiger Unterstützer der Vereinten Nationen. Es sollte sich jedoch bewusst machen, dass die Zivilgesellschaft manchmal die bessere Wahl für eine Zusammenarbeit ist. Ich würde also empfehlen, öfter mit NGOs zusammenzuarbeiten, aber dabei fest im UN-System verankert zu bleiben. Und drittens sollte Deutschland eine führende Rolle bei der feministischen Entwicklungspolitik einnehmen. Die neue Strategie der Regierung ist bisher nur ein Etikett, eine Verpflichtungserklärung, die nun umgesetzt werden muss.
Warum ist das wichtig?
Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene kann nur wirksam sein, wenn die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen umfassend beachtet werden. Wir wissen, dass gerade sie ganz besonders Gewalt und verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind. Darum sind wir uns bei IRC bewusst, dass wir keine erfolgreiche humanitäre Organisation sein können, ohne feministisch zu sein.
Wie sieht die Rolle der GIZ aus? Wie kann sie ihre Aktivitäten in Zusammenarbeit mit Ihnen ausweiten?
Für die GIZ ist erstklassige Fachkompetenz immer die Basis gewesen. Das ist sehr wichtig. Aber ich würde der GIZ raten, auch einmal größere Risiken einzugehen und zu erkennen, dass es im humanitären Sektor zu wenig Innovation gibt. Bei IRC haben wir eine lange Liste von Dingen, die wir gern mit der GIZ zusammen angehen würden. Am wichtigsten sind dabei regelmäßige, strategische, mehrjährige Partnerschaften, bei denen sie gemeinsam mit uns an innovativen Ideen arbeitet, um Wirkungen im größeren Maßstab zu erzielen. Wir würden bei Programmen mit der GIZ auch gern die neue feministische Entwicklungspolitik zum Ausgangspunkt für einen stärkeren Fokus auf die Rolle von Frauen und Mädchen nehmen.
Sie sind jetzt seit etwa 10 Jahren Präsident von IRC. Was treibt Sie in dieser Stellung persönlich an?
Wir helfen mehr Menschen als je zuvor, im letzten Jahr 32 Millionen. Und wir helfen ihnen intensiver und wirksamer als je zuvor. Es motiviert mich zu sehen, dass wir wirklich einen Unterschied machen können.