Interview

„Binnenvertriebene sind weniger sichtbar, aber auch in Not“

David Miliband ist Präsident und Geschäftsführer des International Rescue Committee (IRC), einer NGO, die weltweit lebensrettende Hilfe in schweren Krisen leistet. Im Interview mit akzente spricht der frühere britische Außenminister über humanitäre Brennpunkte, die Lage der Flüchtlinge in der Welt und die Frage, warum Binnenvertriebene oft übersehen werden.

Interview: Friederike Bauer Fotos: Olivia Acland/IRC, IRC

Herr Miliband, überall auf der Welt gibt es zahllose Krisen. Welche bereitet Ihnen am meisten Sorge?

Am meisten sorgt mich die Lage in Ostafrika. Dort sind 30 Millionen Menschen von Hungersnot bedroht und daher in Lebensgefahr – mehr als irgendwo sonst, darunter viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Dennoch erfährt diese Situation nur wenig Aufmerksamkeit.

Konzentrieren wir uns zu sehr auf die Ukraine?

Es ist absolut nachvollziehbar, dass sich die Europäer*innen auf die Ukraine fokussieren. Dieser Konflikt hat Millionen von Geflüchteten über ganz Europa verstreut und stellt eine ernsthafte Bedrohung der internationalen Ordnung dar. Gleichzeitig untergraben wir aber genau die Werte, die wir in der Ukraine verteidigen wollen, wenn wir Kriegsverbrechen, Armut und Konflikte anderswo ignorieren. Außerdem werden Krisen wie jene in Ostafrika über kurz oder lang zu unseren Problemen werden, wenn wir sie nicht angehen, auch wenn sie sich weit weg ereignen. Daher müssen wir die Probleme gleichzeitig angehen und nicht nacheinander.

„Wir stecken mitten in einem längerfristigen Trend erzwungener Migration.“

David Miliband
Präsident und Geschäftsführer des International Rescue Committee (IRC)

Die Zahl entwurzelter Menschen ist im vergangenen Jahrzehnt stetig gestiegen. Mehr als die Hälfte dieser Menschen sind Binnenvertriebene. Warum werden sie in der Diskussion so oft übersehen?

Geflüchtete sind sichtbarer. Sie überqueren Landesgrenzen, auf sie werden Ängste projiziert, sie werden dämonisiert. Binnenvertriebene bleiben Bürger*innen und Einwohner*innen ihres Landes. Für sie ist weiter die eigene Regierung verantwortlich, aber allzu oft kommt sie dieser Verantwortung nicht nach. Manchmal werden sie sogar zur Zielscheibe – als politische Gegner oder Angehörige einer anderen ethnischen Gruppe. Aus all diesen Gründen brauchen sie Hilfe von außen.

Ist es wegen dieses anderen rechtlichen Status schwieriger für Sie und Ihre Organisation, mit Binnenvertriebenen zu arbeiten?

Es gibt diesen juristischen Unterschied, aber das macht es nicht schwieriger. Wenn Menschen in unzugängliche Gegenden ihres Landes fliehen, wo möglicherweise sogar eine bewaffnete Widerstandsgruppe operiert, dann wird es schwer für uns. Es gibt außerdem eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen – beide leben normalerweise in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Die meisten Geflüchteten sind eben nicht in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Sondern in Ländern wie Bangladesch, Äthiopien, Pakistan, Uganda oder dem Libanon. Und auch Binnenvertriebene leiden unter großer Armut; es ist ja nicht so, als zögen sie wegen eines neuen Jobs von Heidelberg nach Berlin.

Was sind die Hauptgründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen?

Laut unserer Emergency Watchlist 2023 gibt es drei wesentliche Gründe dafür; Konflikte sind der wichtigste. Sie sind für 70 Prozent des humanitären Bedarfs verantwortlich. An zweiter Stelle steht die Klimakrise; der dritte Grund sind aktuelle wirtschaftliche Schocks aufgrund von Faktoren wie Covid, höheren Zinsen oder steigenden Lebensmittelpreisen.

Stimmt es, dass Menschen gern so nah wie möglich an ihrem Zuhause bleiben, weil sie zurückzukehren hoffen?

Ja, Menschen bleiben gern nah an ihrer Heimat, aber richtig ist auch, dass Sicherheit für sie am wichtigsten ist. Wenn sie also von einer Besatzungsarmee, politischer Verfolgung oder kriminellen Gangs bedroht werden, dann steht für sie Sicherheit an erster Stelle. Und wenn das bedeutet, sich weiter von ihrer Heimat zu entfernen, dann tun sie das.

Stehen wir weltweit am Anfang einer neuen Ära erzwungener Migration?

Es gibt derzeit weltweit 54 bürgerkriegsähnliche interne Konflikte, dazu den Krieg in der Ukraine. Die meisten dieser Konflikte sind von längerer Dauer. Also ja: Wir stecken mitten in einem längerfristigen Trend erzwungener Migration. Die 2010er Jahre waren der Beginn einer ansteigenden Welle, nicht ihr Ende.

Und gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Solidarität abnimmt …

Ich sehe da keinen Rückgang oder gar Backlash. Sicher, es gibt rechtsextreme Parteien, die Geflüchtete fernhalten oder loswerden wollen, aber es gibt auch jede Menge Solidarität. Die Lage ist polarisiert. Aber natürlich müssen wir uns Sorgen machen, denn es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.

Wo steht Deutschland hier?

Deutschland zeigt ein bewundernswertes internationales Engagement. Ihr Land leistet bedeutende humanitäre Hilfe und unterstützt klar die multilaterale Ordnung.

Gibt es etwas, das Deutschland noch besser machen könnte?

Deutschland sollte anerkennen, dass sich gute Ergebnisse am ehesten mit flexiblen Prozessen einstellen. Das gilt ganz besonders für fragile Verhältnisse und für Konfliktstaaten. Zweitens ist Deutschland ein wichtiger Unterstützer der Vereinten Nationen. Es sollte sich jedoch bewusst machen, dass die Zivilgesellschaft manchmal die bessere Wahl für eine Zusammenarbeit ist. Ich würde also empfehlen, öfter mit NGOs zusammenzuarbeiten, aber dabei fest im UN-System verankert zu bleiben. Und drittens sollte Deutschland eine führende Rolle bei der feministischen Entwicklungspolitik einnehmen. Die neue Strategie der Regierung ist bisher nur ein Etikett, eine Verpflichtungserklärung, die nun umgesetzt werden muss.

Warum ist das wichtig?

Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene kann nur wirksam sein, wenn die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen umfassend beachtet werden. Wir wissen, dass gerade sie ganz besonders Gewalt und verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind. Darum sind wir uns bei IRC bewusst, dass wir keine erfolgreiche humanitäre Organisation sein können, ohne feministisch zu sein.

Wie sieht die Rolle der GIZ aus? Wie kann sie ihre Aktivitäten in Zusammenarbeit mit Ihnen ausweiten?

Für die GIZ ist erstklassige Fachkompetenz immer die Basis gewesen. Das ist sehr wichtig. Aber ich würde der GIZ raten, auch einmal größere Risiken einzugehen und zu erkennen, dass es im humanitären Sektor zu wenig Innovation gibt. Bei IRC haben wir eine lange Liste von Dingen, die wir gern mit der GIZ zusammen angehen würden. Am wichtigsten sind dabei regelmäßige, strategische, mehrjährige Partnerschaften, bei denen sie gemeinsam mit uns an innovativen Ideen arbeitet, um Wirkungen im größeren Maßstab zu erzielen. Wir würden bei Programmen mit der GIZ auch gern die neue feministische Entwicklungspolitik zum Ausgangspunkt für einen stärkeren Fokus auf die Rolle von Frauen und Mädchen nehmen.

Sie sind jetzt seit etwa 10 Jahren Präsident von IRC. Was treibt Sie in dieser Stellung persönlich an?

Wir helfen mehr Menschen als je zuvor, im letzten Jahr 32 Millionen. Und wir helfen ihnen intensiver und wirksamer als je zuvor. Es motiviert mich zu sehen, dass wir wirklich einen Unterschied machen können.

Image
Interview

International Rescue Committee (IRC)

International Rescue Committee (IRC) reagiert auf die schlimmsten humanitären Krisen der Welt und hilft Menschen, die von Konflikten und Katastrophen betroffen sind, in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Schutz und Teilhabe, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. IRC wurde 1933 auf Initiative von Albert Einstein gegründet und arbeitet heute in mehr als 45 Ländern. Um humanitäre Hilfe dorthin zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt wird, setzt IRC bei seiner Arbeit auf Wirkungen. Allein im letzten Jahr hat es 32 Millionen Menschen geholfen. Die GIZ arbeitet seit 2015 mit IRC zusammen und hat seither Projekte und Recherchen in Ländern wie dem Irak, der Türkei, Kamerun, Nigeria, Liberia, Jordanien, Myanmar, Afghanistan und Kolumbien durchgeführt.