Interview
„Wir handeln nicht immer rational“
Herr Karver, was steckt hinter BI – kurz für „behavioural insights“, auf Deutsch „verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse“?
Bei der Weltbank definieren wir BI als einen Ansatz, der untersucht, wie Individuen denken, handeln und interagieren. BI nimmt in den Blick, welche Rolle Vorstellungen und Einstellungen dabei spielen, ob Menschen aktiv werden. Denn wir handeln nicht immer rational – selbst wenn die nötigen Mittel oder Voraussetzungen da sind. Also, wie und warum entscheide ich zum Beispiel, für welche Lebensmittel ich im Laden mein Geld ausgebe, oder ob ich in der Steuererklärung alles korrekt angebe?
Eine eher ganzheitliche Herangehensweise also?
Genau, ein holistisches Modell, um zu verstehen, wie Individuen in ganz spezifischen Kontexten entscheiden und handeln. Das kann von Geschlecht, Alter und Kultur abhängen. Und von gesellschaftlichen und weltanschaulichen Vorstellungen sowie von „automatischen“ Reaktionen. Wir neigen zum Beispiel dazu, (vermeidbaren) Verlusten mehr Wert beizumessen als entsprechenden Gewinnen. Auf dieser Basis werden bei BI Lösungswege entworfen, die all das berücksichtigen.
Warum sind verhaltenswissenschaftliche Ansätze für die Entwicklungszusammenarbeit so interessant?
BI sammelt und analysiert Fakten. Aus der Diagnose werden innovative Konzepte entworfen. Die Interventionen werden stets überwacht und angepasst. Manchmal reicht es, an einer kleinen Stellschraube zu drehen, um eine bessere Wirkung zu erreichen. Dieser Ansatz hat sich als kosteneffektiv erwiesen.
Zunächst klingt es aber nach mehr Aufwand?
Es gibt diese falsche Vorstellung, dass BI viel Zeit frisst und aufwendig ist. Doch die Fakten, die zunächst bei unserer Herangehensweise gesammelt werden, helfen meist schnell, bestehende Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen und das Vorgehen anzupassen. Am Anfang muss etwas Zeit investiert werden, doch das zahlt sich aus.
Wie ist ihre Erfahrung aus Kosovo?
Die Steuerbehörde Kosovos war sehr stark daran interessiert, neue Lösungen zu entwickeln, um die Steuerehrlichkeit bei den Bürgerinnen und Bürger zu fördern. Sie scheute keinerlei Mühe und war sehr interessiert, Einblick in verhaltenswissenschaftliche Faktoren und Ansätze zu bekommen. Der Austausch mit dem Weltbank-Team in Kosovo kam also genau im richtigen Moment. Das über Jahre aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen GIZ und der Steuerbehörde unterstützte das Projekt von Anfang bis Ende und diente als effektives Rückgrat für die gesamte Arbeit.
Wie fällt ihre Bilanz über die Zusammenarbeit aus?
Die Arbeit mit der GIZ hat meine Erwartungen in mehr als einer Hinsicht übertroffen: die Leidenschaft, das Engagement, die Herzlichkeit und die Ansprechbarkeit der Kolleginnen und Kollegen. Das machte die Integration des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes in die Steuerverwaltung viel einfacher, als ich es je erlebt habe. Über das GIZ-Team hatten wir unmittelbaren Zugang zu Mitarbeitenden und der Leitung der Steuerbehörde. So lief Planung und Umsetzung des Projekts unglaublich glatt. Gleichzeitig wurden bei der Steuerbehörde Wissen und Fähigkeiten zu BI aufgebaut. Das ist ein wichtiger Aspekt, da wir immer hoffen, dass verhaltensorientiertes Denken und Handeln auch weitergeht.
akzente 11/2021