Interview
„Eine Milliarde Menschen ist von vernachlässigten Tropenkrankheiten betroffen“
Frau Dr. Kreuzberg, was versteht man unter „vernachlässigten Tropenkrankheiten“? Und was ist das Besondere daran?
Es gibt weltweit 20 Krankheiten, die als „vernachlässigte Tropenkrankheiten“ gelten. Im Englischen werden sie Neglected Tropical Diseases genannt, kurz NTDs. Diese Krankheiten treten meist nur in bestimmten Regionen auf und werden bisher wenig beachtet. Dabei ist mehr als eine Milliarde Menschen davon betroffen. Die meisten der NTDs sind im Prinzip gut behandelbar, doch da sie vor allem im Globalen Süden vorkommen, werden Erkrankte oft nicht gut oder gar nicht medizinisch versorgt. Für die Menschen in den betroffenen Regionen stellen diese Krankheiten daher ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar.
Können Sie Beispiele nennen?
In vielen tropischen Ländern ist die hoch ansteckende bakterielle Augeninfektion Trachom sehr verbreitet. Mit Antibiotika behandelt, heilt sie gut aus. Unbehandelt kann sie dagegen zur Erblindung führen. Noch immer erleiden viele Millionen Menschen dieses Schicksal. Oder die Bilharziose, eine besonders heimtückische Krankheit. Hier dringt ein Parasit, der in Süßgewässern lebt, über die Haut ein. Das kann beim Baden geschehen, beim Wäschewaschen oder Fischen und sogar, wenn das Duschwasser aus nahe gelegenen Gewässern gespeist wird. Dieser Parasit kann schwere Schäden anrichten. Eine Bilharziose-Infektion kann lange Zeit unerkannt bleiben. Wenn sie aber rechtzeitig entdeckt wird, etwa durch Untersuchungen auf Antikörper oder Nachweis von Wurmeiern im Stuhl oder Urin, ist sie gut therapierbar.
Neben den „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ haben Sie auch mit den drei großen Infektionskrankheiten zu tun?
Natürlich, als weltweit tätige Entsendeorganisation sammeln wir reichlich Erfahrungen mit vielen Infektionskrankheiten. Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose sind generell viel stärker in der öffentlichen Wahrnehmung als die „vernachlässigten Tropenkrankheiten“. Malariaprävention ist aber auch für die reisemedizinische Beratung ein sehr wichtiges Thema.
Dr. Christina Kreuzberg ist Fachärztin für Tropenmedizin und Innere Medizin. Seit 2015 arbeitet sie im Medizinischen Dienst der GIZ. Zuvor war sie unter anderem am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin beschäftigt und in dieser Zeit auch in Ghana tätig.
Der Medizinische Dienst ist für die arbeitsmedizinische Versorgung und medizinische Betreuung aller GIZ-Beschäftigten im In- und Ausland zuständig. Gleichzeitig betreut er mitausgereiste Familienmitglieder bzw. Partner*innen bei Fragen zur Gesundheit.
Kontakt: med-bonn@giz.de
Profitiert die Gesellschaft von den Erfahrungen des Medizinischen Dienstes der GIZ?
Wir teilen sie mit anderen Expertinnen und Experten und stellen sie unter anderem auf medizinischen Kongressen vor. Eine Kollegin und ich sind außerdem Mitglieder im Ausschuss für Reisemedizin der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin, Reisemedizin und Globale Gesundheit, der DTG. Gemeinsam mit anderen verfassen wir die DTG-Empfehlungen für Malariaprophylaxe und Reiseimpfungen. Als GIZ können wir hier besonders unsere guten Erkenntnisse über Reisen in ländliche Regionen einbringen und auch Erfahrungen mit schwangeren Reisenden und mitausreisenden Kindern. Diese Erkenntnisse finden über die DTG-Empfehlungen ihren Weg bis hin zu den Hausärzt*innen und kommen somit vielen zugute.
In Zahlen
3.000–3.500 Mitarbeitende der GIZ werden pro Jahr vom Medizinischen Dienst bei ihrer Entsendung ins Ausland begleitet.
1.000 Beratungen für Mitarbeitende im Ausland oder deren Familien finden jährlich statt.
Werden Tropenkrankheiten auch in Europa zunehmend ein Thema sein, nicht nur bei Reisen?
Der vom Klimawandel verursachte Temperaturanstieg führt dazu, dass sich Tropenkrankheiten in nördliche Gefilde ausbreiten. Bilharziose etwa wurde inzwischen auf Korsika nachgewiesen. Auch die Mücken, die beispielsweise Viren übertragen, die Denguefieber oder eine Zika-Infektion auslösen, können längst außerhalb klassischer Tropenregionen überleben. Solche Erkrankungen werden uns in Zukunft also sehr viel häufiger begegnen – auch in Europa.
September 2022