Reportage

Einem Leben auf der Spur

In Mexiko gelten mehr als 61.000 Menschen als verschwunden. Gleichzeitig gibt es 37.000 Tote, die identifiziert werden müssen. Ein mexikanisch-deutsches Team zeigt, wie die Gerichtsmedizin dazu beiträgt, Angehörigen Gewissheit zu bringen.

Text
Klaus Ehringfeld
Fotos
Tonatiuh Figueroa

Ein Stück Haut, kaum größer als ein DIN-A4-Blatt. Dunkel, ledrig. „Mumifiziert“ nennt man das in der Rechtsmedizin. Vorsichtig wickeln es Guadalupe de la Peña und Franziska Holz aus einem blauen Papier und legen es auf einen Seziertisch. Das Stück Haut ist ein wertvolles Fundstück, denn es kann die Antwort auf die Frage geben: Wer war der Mensch, von dem es stammt?

Mexikanisch-deutsche Zusammenarbeit: Guadalupe de la Peña, Franziska Holz und Christoph Birngruber (von links nach rechts) am Seziertisch des Forensischen Instituts von Jalisco in Guadalajara.
Mexikanisch-deutsche Zusammenarbeit: Guadalupe de la Peña, Franziska Holz und Christoph Birngruber (von links nach rechts) am Seziertisch des Forensischen Instituts von Jalisco in Guadalajara.

Das Rätsel wollen die deutschen Rechtsmediziner Franziska Holz und Christoph Birngruber, ihre mexikanische Kollegin Guadalupe de la Peña und die Anthropologin Dalia Miranda heute ein Stück weit entschlüsseln. Mehr als dieses Stück Haut, der Schädel und Knochen sind von diesem Menschen nicht übrig, der vor einem Jahr gefunden wurde. Sicher ist nur: Es war ein 31 bis 51 Jahre alter Mann.

Epizentren der Gewalt

Es ist in jeder Hinsicht harte Arbeit. Und sie beginnt mit einem genauen Blick. Alle vier beugen sich über die Haut, auf der man mit Mühe noch farbige Striche erkennen kann, die zu einer Tätowierung gehörten. Künstliches Licht leuchtet die Szenerie im Keller des Forensischen Institutes in Guadalajara aus. In der zweitgrößten Stadt Mexikos leben gut fünf Millionen Menschen, sie liegt im Westen zwischen Pazifik und der Hauptstadt Mexiko-Stadt. Hier wurden vor bald einem halben Jahrhundert die mexikanischen Kartelle gegründet und hier ringen sie noch immer um Routen und Reviere für Rauschgift und andere illegale Aktivitäten. Und sie kämpfen gegen den Staat. Guadalajara und der dazugehörige Bundesstaat Jalisco sind Epizentren der Gewalt in Mexiko.

In dem lateinamerikanischen Land wurden 2019 jeden Tag 100 Menschen ermordet. Mehr als 61.000 Menschen gelten laut Nationaler Suchkommission im ganzen Land als verschwunden, davon 9.000 in Jalisco. In dem Bundesstaat wurden vergangenes Jahr 2.700 Menschen ermordet. Viele der Opfer wurden in Massengräbern verscharrt, von denen allein im vergangenen Jahr fast 900 in ganz Mexiko entdeckt wurden. Zahlreiche auch in und um Guadalajara.

Tätowierungen helfen beim Identifizieren

In der Regel tragen die Opfer der Kartellgewalt keine Papiere bei sich, meist werden sie nackt aufgefunden. „Es ist die traurige Realität, mit der wir hier konfrontiert sind“, sagt Guadalupe de la Peña. Jeden Tag werden im Schnitt acht bis zehn Leichen in das Institut gebracht, rund die Hälfte von ihnen ist nicht identifiziert. Das stellt die Fachleute vor die schwierige Aufgabe: Wie findet man heraus, wer diese Menschen waren? Zumal der Zustand der Leichenteile oft die Identifizierung erschwert.

Die Anthropologin Dalia Miranda (Zweite von links) verstärkt das Team, hier beim Enträtseln der Infrarotaufnahmen.
Die Anthropologin Dalia Miranda (Zweite von links) verstärkt das Team, hier beim Enträtseln der Infrarotaufnahmen.

In Deutschland würden sich die Rechtsmedizinerinnen und -mediziner auf einen DNA-Abgleich, den Zahnstatus oder schlicht die Fingerabdrücke stützen. Entsprechende zentrale Register beispielsweise für Fingerabdrücke gibt es aber in Mexiko nicht. Auch der Zahnstatus hilft nicht weiter, weil mexikanische Zahnärztinnen und -ärzte keine Nachweise führen. „Also müssen wir uns auf sekundäre Merkmale wie Tätowierungen stützen“, erläutert Franziska Holz.

Franziska Holz und Christoph Birngruber haben gemeinsam mit ihren mexikanischen Kolleginnen und Kollegen seit Oktober 2019 sechs Monate lang daran gearbeitet, die Erkennung zu verbessern. Die GIZ unterstützt das lateinamerikanische Land im Auftrag des Auswärtigen Amts bei der Stärkung seiner rechtsmedizinischen Institute. „Die Identifizierungen müssen besser und schneller gelingen als bisher“, sagt Birngruber, der sonst an der Goethe-Universität Frankfurt am Main arbeitet. Ausbleibende Identifizierungen führen zu immer größeren Engpässen in den rechtsmedizinischen Instituten Mexikos.

Den Rechtsstaat stärken

 

Den Rechtsstaat zu stärken, ist eine der wichtigsten Herausforderungen in Mexiko. Dazu gehört, Opfern von Gewaltverbrechen einen Namen zu geben. Die GIZ arbeitet im Auftrag des Auswärtigen Amts mit Institutionen des mexikanischen Staates und mit der Zivilgesellschaft zusammen, um die Identifikation von Toten sowie grundlegende Strukturen der Rechtsmedizin und des nationalen Suchsystems für Verschwundene zu verbessern. Die Erarbeitung und Umsetzung eines „außerordentlichen Mechanismus“ für die Identifizierung von über 37.000 unbekannt Verstorbenen, die derzeit in den rechtsmedizinischen Instituten liegen, und die Ausgrabung von Tausenden (Massen-)Gräbern wird in mehrfacher Weise unterstützt. Um Angaben zu Todesopfern effektiv zu erfassen und auch über Bundesstaatsgrenzen hinweg zuzuordnen, werden Datenbanken aufgebaut und mexikanische Partner entsprechend geschult. Das Vorhaben arbeitet eng mit den Vereinten Nationen, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und der Deutschen Botschaft in Mexiko zusammen. Im Zusammenhang mit dem Einsatz deutscher Rechtsmediziner hat das Vorhaben Zeitungs- und Fachartikel in Mexiko veröffentlicht. Strukturelle Veränderungen bei der Identifizierung von unbekannten Toten werden zunehmend im öffentlichen Diskurs aufgegriffen.

 

Kontakt: Maximilian Murck maximilian.murck@giz.de

Zudem klopfen täglich Mütter, Ehefrauen und Kinder an die Pforten der Institute und suchen nach ihren Söhnen, Männern oder Brüdern, die verschwunden sind. Dass die Angehörigen direkt in die Rechtsmedizin gehen und nicht zur Polizei, liegt am Misstrauen gegenüber den Ermittlungsbehörden. Davon erzählt Mónica Chavira, eine 56-jährige Frau mit klarer Meinung. Sie gehört dem Kollektiv „Por Amor a Ellxs“ (Aus Liebe zu ihnen) an, einer Selbsthilfegruppe von Frauen, deren Männer oder Söhne spurlos verschwunden sind.

Chavira hat seit September 2013 kein Lebenszeichen mehr von ihrem Mann und ihrem Sohn erhalten. Keine Spur, nirgends. Für sie, wie für andere Angehörige auch, ist die fehlende Gewissheit extrem belastend. „Polizei und Staatsanwaltschaft tun ihre Arbeit nicht ausreichend“, klagt die Mexikanerin über die gravierenden Defizite des Sicherheits- und Justizsystems. Die zuständigen Stellen ermittelten nicht oder nur oberflächlich, so Mónica Chavira: entweder weil sie nicht wüssten, wie es gehe, oder weil sie mit den Kartellen unter einer Decke steckten.

Mütter suchen ihre Söhne: Mónica Chavira (links) und Silvia Liviere vom Kollektiv „Por Amor a Ellxs“ (Aus Liebe zu ihnen) in den Straßen von Guadalajara.
Mütter suchen ihre Söhne: Mónica Chavira (links) und Silvia Liviere vom Kollektiv „Por Amor a Ellxs“ (Aus Liebe zu ihnen) in den Straßen von Guadalajara.

Mehr als dreißig Mal suchte die Erzieherin in den vergangenen Jahren die Polizei, Staatsanwaltschaft und auch das Forensische Institut von Guadalajara auf, um nach ihren Angehörigen zu suchen. Und immer wieder musste Mónica Chavira die gleichen Dokumente vorlegen, die gleichen Fragen beantworten: Alter, Größe, Fingerabdrücke, Personalausweis, unveränderliche Kennzeichen, DNA-Proben – ohne Erfolg. „Wie gut, dass jetzt Augen aus anderen Ländern hierherschauen“, sagt sie. „Der Druck ausländischer Regierungen hilft, damit die Dinge besser gemacht werden.“

Begeistert von der mexikanisch-deutschen Teamarbeit

Damit dies gelingt, haben die deutschen und mexikanischen Forensikerinnen und Forensiker gemeinsam Datenbanken systematisiert und beispielsweise Narben oder Tätowierungen kategorisiert. So lassen sich spezifische Merkmale eines Menschen vor und nach dem Tod vergleichen. „Wir wollten erreichen, dass die Angehörigen bei weiteren Besuchen nicht alle Angaben wiederholen müssen, sondern dass auf bereits vorhandene Daten zurückgegriffen werden kann“, sagt Franziska Holz, die als Rechtsmedizinerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main arbeitet. Dieses Ziel verbindet sie mit Guadalupe de la Peña, die über die mexikanisch-deutsche Teamarbeit begeistert ist: „Das Schöne an der Zusammenarbeit mit Franziska und Christoph war, dass wir die Verbesserungen gemeinsam vorangebracht haben.“

MEXIKO

 

Hauptstadt: Mexiko-Stadt / Bevölkerung: 126,2 Mio. / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 9.180 US-Dollar / Wirtschaftswachstum: 2,1 Prozent / Rang im Human Development Index: 76 von 189

Quelle: Weltbank 2018

Mexiko ist die größte spanischsprachige Demokratie der Welt, doch sie leidet unter einer Krise des Rechtsstaats. Die hohe Mordrate, Zehntausende Verschwundene und eine fast komplette Straflosigkeit auch bei schwersten Verbrechen erschüttern das Land. Die Regierung hatte bei Amtsantritt Ende 2018 bekundet, gegen diese humanitäre Krise vorzugehen.

Neue Methoden helfen dabei, mehr Erkennungszeichen entdecken zu können. Wie etwa der relativ einfache Einsatz von Wasserstoffperoxid: Diese blassblaue Flüssigkeit, eine Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff, hilft, Tätowierungen auf der Haut wieder sichtbar zu machen. Trägt man die verdünnte Lösung auf, wirkt die Haut für eine gewisse Zeit heller und Tätowierungen lassen sich besser erkennen. Bei bereits mumifizierten Leichen helfen Infrarotfotos. Damit versucht das mexikanisch-deutsche Team auch, die Tätowierung auf dem DIN-A4-großen Hautstück zu entziffern.

Infrarotfotos und Wasserstoffperoxid

Franziska Holz greift zu einem Pinsel, streicht Erde von dem Hautstück, das vom Rücken des Opfers stammt und eine breitflächige Tätowierung zierte. Man sieht Umrisse, erkennt Farben. Das Team dreht das Hautstück hin und her, wirft sich auf Deutsch, Englisch und Spanisch Ideen zu, was man möglicherweise auf der Haut sieht.

Die Arbeit erleichtert ihnen eine Spiegelreflexkamera, die mittels eines einfachen Filteraustausches zu einem wertvollen Identifizierungsinstrument wird. So kann man auf den Bildern beispielsweise Blut auf dunklem Stoff oder eben Pigmente in Tätowierungen sichtbar machen, weil nur noch Infrarotwellen durchgelassen werden.

„Wir hoffen, zur ­sozialen Befriedung Mexikos beizutragen und Vertrauen in den Rechtsstaat aufzubauen.“

De la Peña fotografiert eine Stelle auf der Haut. Auf dem Display der Kamera zeichnet sich in Schwarz-Weiß das Gesicht eines Clowns oder eines Fabelwesens ab. Parallel sucht die junge Medizinerin im Internet nach vergleichbaren Fotos. „Das hier könnte es sein“, sagt sie plötzlich. „Das ist ein Harlekin.“ Stück für Stück, Zentimeter um Zentimeter, wird das menschliche Überbleibsel abfotografiert. Später schaut sich die Anthropologin Miranda die Fotos auf dem Computer an und versucht, das Puzzle zusammenzusetzen. Die Arbeit der Anthropologen ist genauso herausfordernd wie die der Rechtsmediziner. Miranda, ihre Kolleginnen und Kollegen untersuchen Funde von Einzelknochen oder ganzen Skeletten. Dabei müssen sie prüfen, ob sie zu einem Menschen gehören oder zu mehreren. Frische Verletzungsspuren an den Knochen erlauben gegebenenfalls Aussagen zur Todesursache. Bei der Vielzahl der Opfer, von denen nur noch Knochen oder Skelette übrig sind, ist die Arbeit der An­thropologen ein zentraler Baustein der Identifikationsarbeit.

Einige Wochen später ist die Hautverzierung zwar noch nicht komplett entziffert, aber klar ist, dass drei ineinander verwobene Köpfe von Fabelwesen das Zentrum bilden. Dalia Miranda findet ähnliche Tätowierungen im Netz. Damit könnte man jetzt in den Datenbanken suchen, ob eine Angehörige oder ein Angehöriger ein solches Tattoo bei einer Vermisstenmeldung angegeben hat.

Bei vielen der Opfer sind ähnlich mühsame Prozesse zur Identifizierung notwendig. Doch die Bedeutung jedes erfolgreich abgeschlossenen Falls ist groß, weiß Guadalupe de la Peña: „Denn so können die Familien endlich ihre Trauerarbeit beginnen.“ Für sie ist genau das eine wichtige Motivation ihrer Arbeit. „In Mexiko wird wenig an die Opfer gedacht“, unterstreicht sie. Sensibilität und Empathie seien nicht die Stärken des Systems beim Umgang mit den Angehörigen. „Aber mir gefällt, dass wir Familien mit unserer Arbeit ein Stück weit Frieden bringen können.“

aus akzente 2/20