Jordanien

Gemeinsam aufbrechen

Sie trotzen Stereotypen, überzeugen Männer und sind Vorbilder: unterwegs mit weiblichen Abgeordneten der regionalen Räte von Jordanien.

Text
Brigitte Spitz
Fotos
Rajiv Raman

Es dauert keine Minute, um ihre ansteckende Energie zu spüren. Aida Al Khattab steht im gleißenden Sonnenschein am Eingang des Provinzgebäudes der südjordanischen Stadt Ma’an. Als die Besucher aus der Hauptstadt ankommen, stürmt sie sofort auf sie zu. Den Männern nickt sie zu, die Frauen umarmt und küsst sie. Aida Al Khattab ist die Vizepräsidentin im Rat des größten Gouvernements von Jordanien. Sie ist die einzige Frau in diesem Amt landesweit. Im August 2017 wurde sie in den neuen Rat gewählt. Er ist, wie in den anderen elf Provinzen auch, Teil einer Dezentralisierungsinitiative im Königreich.

Gelebte Gleichberechtigung – Fawaz Al Khattab unterstützt die Karriere seiner Frau Aida.

Aida Al Khattab engagiert sich sozial, so lange sie denken kann. Erst als Lehrerin für Geschichte, Erdkunde und Politik, dann als Schulleiterin und ehrenamtlich bei verschiedenen Organisationen. Doch den Schritt in die aktive Politik hat die 56-Jährige erst 2017 gewagt. Die Gegend von Ma’an, drei Autostunden von der Hauptstadt Amman entfernt, gilt als sehr konservativ. Gleichwohl hatten sie Menschen aus der Gegend aufgefordert, bei den Wahlen zu kandidieren – auch der Scheich des wichtigsten ­Beduinenstamms. Als sie ihn später im Zentrum von Ma’an in der Basarstraße trifft, reden sie bei einem Glas Tee über die Jugendarbeitslosigkeit, eines der größten Probleme in der ärmsten Region des Landes. Aida Al Khattabs Hände halten nicht still: „Wir müssen Wege finden, damit hier inves­tiert wird. Wir müssen etwas tun.“

Die quirlige Jordanierin sucht dafür jetzt auch politische Lösungen. Das nötige Wissen und das Handwerkszeug hat sie durch Schulungen erworben. „Mein Aktivismus hat durch die Trainings von LEAD eine neue Dimension bekommen“, sagt ­Aida Al Khattab. „LEAD“, auf Deutsch „führen“, steht für ein Programm zur Stärkung von Frauen in führenden Positionen in der Verwaltung und Zivilgesellschaft im Nahen Osten. Es wird von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH durchgeführt und ist Teil der „Sonderinitiative zur Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika, Nahost“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dadurch sollen Länder wie Jordanien unter anderem dabei unterstützt werden, die demokratische Entwicklung voran­zutreiben. Das politisch relativ stabile Königreich hat im Verhältnis zur eigenen ­Bevölkerung sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, allein rund 700.000 Syrer*innen haben in dem inzwischen 9,5 Millionen Menschen zählenden Land Zuflucht gesucht. Dadurch steht Jordanien vor großen wirtschaft­lichen, sozialen und politischen Herausforderungen.

Die Vizepräsidentin von Ma’an gibt ihr neues Wissen weiter

Vorhaben wie LEAD sollen dazu beitragen, Frauen im Nahen Osten im öffentlichen Leben zu unterstützen, damit auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung angemessen vertreten wird. Und ihr Wissen einbringt. Frauen sind in Jordanien inzwischen gut ausgebildet, doch nur rund 13 Prozent arbeiten außerhalb ihres Hauses. In den kommunalen und regionalen Räten liegt der Frauenanteil im Schnitt bei 29 Prozent. Im jordanischen Parlament sind es 15 Prozent.

In Ma’an hat die Vizepräsidentin ihr neues Wissen an ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Rat und der Verwaltung weitergegeben. „Aida ist ein so witziger und engagierter Mensch, sie vermittelt ihre Kenntnisse lebensnah“, sagt einer ihrer Mitarbeiter: „Als es um das Erstellen von Prioritäten ging, hat sie einfach gesagt, stellt euch vor, wir gehen auf den Markt, den Souk, und haben alle eine Einkaufsliste dabei. Jetzt vergleichen wir unsere Listen und finden heraus, was bei allen draufsteht. So finden wir die wichtigsten Ziele.“ Wie Aida Al Khattab wurden in Jordanien, im Libanon und in den Palästinensischen Gebieten mehr als 2.400 Frauen aus Gemeinderäten, Verwaltungen und Frauenorganisationen geschult: in Seminaren zu politischer Bildung, in Mentorenprogrammen für Führung und Management oder in öffentlichen Debatten. Sie wiederum geben ihr Wissen weiter.

Gelebte Gleichberechtigung

2017 erreichte in Jordanien zudem eine Medienkampagne in Fernsehen und Radio vier Millionen Menschen. Dabei erklärten bekannte Persönlichkeiten vor den Wahlen zu den Gouvernementsräten, weshalb sie sich für mehr Frauen in den Stadt-, Gemeinde- und Provinzräten und damit für Gleichberechtigung einsetzen. Auf die Frage, warum er seine Frau immer unterstützt hat, auch in ihrem politischen Amt, antwortet Aida Al Khattabs Mann Fawaz: „Ich wollte, dass sie sich diesen Traum verwirklichen kann. Das sollten doch Eheleute füreinander tun, oder?“ Ihre sieben Kinder, sechs Töchter und ein Sohn, sind inzwischen groß. Alle haben studiert und arbeiten. Die Aufgaben, etwa mit den sieben Enkeln, teilt sich das Ehepaar. Sie leben Gleichberechtigung. Das scheint auch auf den Rest der Familie abzufärben. Der Sohn ist in der Mittagspause vorbeigekommen und serviert das Brot zum traditionellen Gericht Mansaf mit Reis und Lamm.

Familien haben einen hohen Stellenwert in der jordanischen Gesellschaft und konservative Kräfte sehen durch das Streben nach Gleichberechtigung die Einheit der Familien gefährdet. Keine Spur davon bei den Al Khattabs. Im Miteinander sieht Aida Al Khattab die Zukunft: „Frauen sollen für sich kämpfen, aber das bedeutet nicht gegen die Männer. Gemeinsam sollen sie sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln.“ Ein langer Weg – nicht nur in Jordanien. „Jeder Wechsel braucht Zeit, aber es gibt Veränderungen und Frauen wollen mehr erreichen“, meint sie.

Unterwegs bei den Menschen – Manar abu Rumman im Basar der Stadt Salt.

Jubel über den Wahlsieg der Mutter

Das findet auch Manar abu Rumman in der 250 Kilometer nördlich gelegenen, historischen Stadt Salt. Die 32-Jährige hat 2017 bei den Gouvernementswahlen ein gutes Ergebnis eingefahren. Jetzt sitzt sie im Rat der Provinz Al-Balqa. Zuvor hat sie als Mitarbeiterin für das jordanische Parlament gearbeitet und so schon etwas politische Luft geschnuppert. Die Trainings von LEAD hätten sie darin bestärkt zu kandidieren. „Das hat mir Selbstbewusstsein gegeben und das nötige Wissen für den Wahlkampf“, sagt die studierte Bankmanagerin. Auch ihre Tochter hat sie angesteckt. Am Wahltag hängte sich die Neunjährige eine bunte Schärpe um, darauf der klare Appell: „Wählt Manar“. Der Jubel nach dem guten Wahlergebnis der Mutter war groß.

IN ZAHLEN

 

2.400 Frauen wurden in Jordanien, im Libanon und in den Palästinensischen Gebieten geschult.

180.000 Bürger*innen profitierten von der Umsetzung von bisher 26 Kleinprojekten.

250 Jugendliche setzen sich in einem Netzwerk für ­Gleichberechtigung ein.

Khaldoun Shawabkeh wirbt für ein neues Männer- und Frauenbild in Jordanien.

Eine Selbstverständlichkeit ist Chancengleichheit allerdings noch lange nicht, weiß Manar abu Rumman. Auch nicht bei der jungen Generation. Fehlende Lebensperspektiven und Einflüsse extremistischer Gruppen in der Region zeigen ihre Spuren. Während junge Frauen häufiger Gleichberechtigung für sich reklamieren, gibt es Berichte und Studien über konservative Einstellungen bei jungen Männern. Diese Richtung ist für Khaldoun Shawabkeh allerdings völlig unvorstellbar. Der 20-Jährige lebt in einem Dorf südlich von Amman und gehört zu einem Jugendnetzwerk, das sich für Frauenrechte einsetzt. „Ja, das erstaunt vor allem auch Frauen“, sagt er, „aber Stereotypen ändern sich.“ In einem Jugendzentrum habe er interessante Leute kennengelernt, berichtet er. Sie hätten sein Interesse für das Thema Gleichberechtigung geweckt. In Kursen hat er gelernt, wie soziale Medien in Kampagnen eingebunden werden. „Ja, ich sehe mich als Feminist“, sagt er zur Überraschung der Reporter, „denn wenn Frauen die gleichen Chancen haben und sich einbringen können, dann haben wir doch alle etwas davon, dann profitiert die ganze Gesellschaft.“

 

Khaldoun ist im letzten Schuljahr. Als er von Aida und Fawaz Al Khattab hört, die seit 31 Jahren verheiratet sind und sich bei der Verwirklichung ihrer Träume unterstützten, strahlt der junge Mann: So etwas wünsche er sich auch für seine Zukunft. Einen starken Menschen an seiner Seite.

aus akzente 4/18