Interview

„Menschen auf der Flucht müssen für sich selbst sprechen können“

Ein Gespräch mit Sabah Al Hallak, syrische Frauen- und Menschenrechtlerin, über ihre eigenen Erfahrungen und ihr Engagement im Aktionsnetzwerk für Frauen auf der Flucht.

Sabah Al Hallak
Sabah Al Hallak (63) ist eine syrische Frauen- und Menschenrechtlerin. Sie ist Mitglied im Verwaltungsrat der Syrischen Frauenliga, einer unabhängigen Frauenrechtsorganisation. Sie gehört außerdem dem von den UN begleiteten Komitee zur Erarbeitung einer neuen Verfassung für Syrien an und berät den UN-Sonderbeauftragten für Syrien in Frauenfragen. © UN-Women/Jeca Taudte

Frau Al Hallak, Sie mussten 2013 aus Syrien fliehen, wo leben Sie heute?
Ich bin 2013 zunächst in den Libanon gegangen. Vor einigen Monaten bin ich jedoch nach Berlin gezogen, denn hier wohnt meine Schwester, die 2017 als Flüchtling nach Deutschland kam. Wir leben beide allein und wollten näher beieinander sein.

Unter welchen Umständen haben Sie Syrien verlassen, und wie hat sich Ihr Leben durch den Konflikt dort verändert?
In Syrien war ich nicht mehr sicher. Wer sich wie ich für Menschen- und Frauenrechte einsetzt, kommt zwangsläufig mit dem Regime in Konflikt. Glücklicherweise können syrische Staatsbürger, die in Gebieten leben, die vom Regime kontrolliert werden, ganz einfach mit ihrem Personalausweis in den Libanon einreisen. Sowieso kann ich meine Situation nicht mit der von anderen Menschen auf der Flucht vergleichen. Ich hatte das Glück, dass ich die Arbeit für meine Organisation, die Syrische Frauenliga, im Libanon fortsetzen und mir auch eine Wohnung leisten konnte. Viele Flüchtlinge im Libanon leben in Zeltlagern. Das betrifft vor allem Frauen und Kinder. Sie sind oft sehr arm.

Sie engagieren sich in vielfältiger Weise für syrische Frauen auf der Flucht. Womit beschäftigen Sie sich derzeit konkret?
Ich unterstütze Organisationen syrischer Flüchtlinge hier in Deutschland, die Frauen fördern und stärken wollen. Das mache ich ehrenamtlich. Darüber hinaus berate ich ein Netzwerk syrischer Anwältinnen in Syrien, der Türkei und europäischen Ländern. Da geht es um konzeptionelle und strategische Fragen und auch um ganz praktische, etwa darum, was man bei Förderanträgen beachten muss. Diese Anwältinnen arbeiten mit syrischen Frauen, die Überlebende von Gewalt  sind. Frauen, die im Gefängnis saßen oder im Krieg vergewaltigt worden sind.

Was sind ganz allgemein die Schwierigkeiten, mit denen syrische Frauen auf der Flucht konfrontiert sind?
Wenn wir über syrische Frauen sprechen, muss man bedenken, dass sie aus einer sehr traditionellen Gesellschaft kommen. Viele haben die meiste Zeit zu Hause verbracht, viele haben auch sehr früh geheiratet und keine Ausbildung erhalten. Für diese Frauen bedeutet das Leben auf der Flucht eine große Umstellung. Ganz besonders für Frauen, die ohne einen männlichen Verwandten unterwegs sind und plötzlich allein für sich und ihre Kinder sorgen müssen. Laut UN-Angaben sind das rund 40 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien.

Welche Unterstützung benötigen Menschen auf der Flucht, insbesondere geflüchtete Frauen und marginalisierte Gruppen?
Außer finanzieller Unterstützung, die zunächst am wichtigsten ist, fehlen diesen Gruppen meist grundsätzliche Informationen über ihre Rechte - über Menschen- und Frauenrechte und auch über ihre Rechte als Geflüchtete. Entscheidend sind auch Sprachkenntnisse, vor allem in Englisch, und Computerkenntnisse, denn sie erleichtern es den Frauen, eine Ausbildung oder Arbeit zu finden.

Sie sind Mitglied im „Aktionsnetzwerk für Frauen auf der Flucht“. Darin tauschen sich engagierte Frauen wie Sie über ihre Erfahrungen aus. Wie hilfreich ist ein solches Forum?
Wir können sehr viel im Austausch mit Frauenorganisationen aus verschiedenen Ländern lernen. Ich war beispielsweise zweimal in Bosnien und habe mich informiert, wie dort Überlebende von Vergewaltigungen unterstützt worden sind, gegen ihre Peiniger vor dem internationalen Strafgerichtshof auszusagen. Das wird auch im Falle Syriens eine große Rolle spielen, denn Vergewaltigungen sind im Krieg in Syrien eine schreckliche Realität. Ein anderer Aspekt sind Eigentumsrechte. Wie können wir sicherstellen, dass Frauen, die ihren Mann verloren haben, ihre Häuser zurückerhalten, wenn sie nach dem Krieg zurückkehren? In Syrien gehören die Häuser den Männern, Frauen haben bisher keinen Rechtsanspruch auf dieses Eigentum. Im Netzwerk berichten Frauenrechtsgruppen aus anderen Ländern, wie sie vorgegangen sind, um Frauen zu ihrem Eigentum zu verhelfen. Sie sagen, Frauen müssen darauf drängen, von Anfang an angemessen an Friedensgesprächen und Verfassungsverhandlungen beteiligt zu werden, um ihre Forderungen durchzusetzen.

Wie kann aus Ihrer Sicht die Teilhabe von Menschen auf der Flucht gestärkt werden und welche Rolle können von Flüchtlingen geführte Initiativen spielen?
Initiativen von Menschen mit Fluchterfahrung sind enorm wichtig. Die Menschen müssen für sich selbst sprechen können, denn sie kennen ihre Bedürfnisse am besten. Sie sollten daher die ersten Ansprechpartner für UN-Hilfswerke und andere Hilfsorganisationen sein. Voraussetzung dafür ist, dass Flüchtlinge ihre Rechte kennen und wissen, wie sie sich einbringen können. Das gilt besonders für Frauen. Gerade sie brauchen spezielle Trainings- und Workshopangebote, um Führungsrollen in solchen Initiativen zu übernehmen.

Welche Rolle können Organisationen wie die GIZ und internationale Akteure wie der UNHCR spielen, um Partizipation zu fördern?
Sie sollten flüchtlingsgeführte und lokale Organisationen aktiv unterstützen und dabei besonders die Belange von Frauen in den Blick nehmen. Teilweise tun sie das bereits, doch es gibt viele gute und engagierte Gruppen, die dringend Geld und Beratung brauchen.

Globales Netzwerk für Frauen auf der Flucht

Das Ziel des Aktionsnetzwerk „Action Network on Forced Displacement“ ist es, Frauen auf der Flucht als „Agents of Change“ zu stärken und zu unterstützen. Das Netzwerk dient als Plattform für Veränderungen und Austausch zwischen Akteur*innen. Zudem arbeitet es darauf hin, Frauen in ihren Rechten, Möglichkeiten und Aktivitäten zur wirtschaftlichen und politischen Teilhabe zu fördern. Das Aktionsnetzwerk wurde 2020 vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gegründet.

Juni 2022