Reportage

Gurken warten auf niemanden

Bei der Ernte zählt jeder Tag. Auf dem Ostić-Bauernhof in Serbien werden die Saisonarbeitskräfte unbürokratisch mit einer App registriert. Das elektronische Meldesystem lohnt sich für alle Seiten.

Text
Andrej Ivanji
Fotos
Marija Jankovic

Branko Ostić

Branko Ostić erweckt den Eindruck, unter beständigem Zeitdruck zu stehen. Der 31-Jährige schaut andauernd auf die Uhr oder sein Handy. Ganz so, als müsste er in Kürze irgendwo anders sein. Mit seinem Auto fährt er wie ein Rallyefahrer über die holprigen, vom Ackerland umgebenen Landstraßen in der Provinz Vojvodina im Norden Serbiens.

Im Gespräch in seinem Haus im Dorf Manđelos, rund 75 Kilometer nordwestlich der serbischen Hauptstadt Belgrad gelegen, ­erfährt man den Grund für seine Rastlosigkeit. „Gurken warten auf niemanden“, sagt Branko. Diesen Satz wiederholt er wie ein Mantra – als sei es die Philosophie seiner Geschäftsführung. Gurken sind mit Abstand das wichtigste Produkt des Bauerngutes Ostić. Die gesamte Ernte verkauft Branko Ostić seinem Vertragspartner in Deutschland, der Firma Kühne aus Hamburg, die Gewürzgurken in die ganze Welt liefert.

In der Hauptsaison beschäftigt er mehr als 150 Saisonarbeiterinnen und -arbeiter. Auf vierzehn Hektar Ackerland ernten sie an einem guten Tag bis zu 40 Tonnen Gurken. Einer von ihnen ist Martin Bošković aus der südserbischen Stadt Vranje. Er kommt seit vier Jahren zu Branko Ostić. Weil die Arbeitsbedingungen bei ihm so gut seien und weil es zu Hause keine Arbeit gebe, sagt der fünfzigjährige Roma. Zwar sei die Gurkenernte anstrengend, doch wenigstens habe man auf dem Ostić-Hof eine anständige Unterkunft. Und das Essen sei „extra“, wie er betont, und kostenlos. „Solche Bedingungen sind selten“, sagt Bošković. Der Tageslohn für Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in Serbien beträgt im Schnitt zwischen rund 21 und 30 Euro netto. Neben Martin Bošković arbeiten dieses Jahr auch seine Frau und sein Sohn für Branko Ostić. Wenn die Saison spätestens Ende September vorbei ist, hat die Familie für serbische Verhältnisse gutes Geld in der Tasche.   

ZUFRIEDENE BESCHÄFTIGTE

Nach der Einführung des elektronischen Systems zur Beschäftigung von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft Serbiens wurden Erntehelferinnen und -helfer systematisch befragt. Zwei Drittel von ihnen äußerten sich zufrieden mit den Arbeitsbedingungen im Vergleich zu den Vorjahren. Fast die Hälfte der Befragten gab an, sogar sehr zufrieden zu sein. Als häufigste Gründe wurden insgesamt bessere Arbeitsbedingungen genannt, gefolgt von der Tatsache, dass sie pünktlich ­bezahlt würden und sich ihr Einkommen verbessert habe. Der am häufigsten angeführte Vorteil des neuen Arbeitssystems sei die Krankenversicherung im Falle einer Verletzung am Arbeitsplatz, und dieser Vorteil wurde auch als der wichtigste bezeichnet.

Der Familienbetrieb Ostić ist ein beliebter Arbeitgeber. Saisonarbeiterinnen und -arbeiter kommen aus allen Landesteilen dorthin,  auch aus dem Nachbarstaat Bosnien und Herzegowina und sogar aus Albanien. Branko Ostić hat nagelneue Containerunterkünfte mit Klimaanlagen eingerichtet und ein lokales Restaurant versorgt die Beschäftigten drei Mal am Tag mit Mahlzeiten. Während der Coronavirus-Pandemie werden alle Beschäftigten auf Covid-19 getestet, manche auch mehrmals. Vorsichts- und Hygienemaßnahmen werden gewissenhaft durchgeführt. Wer neu ankommt, wird in separaten Containern untergebracht, bis ein Coronavirus-Test vorliegt.  

Die Gurkenernte ist harte Arbeit: Auf einer Plattform werden die Arbeiterinnen und Arbeiter über den Acker gezogen und pflücken bäuchlings das grüne Gemüse.

Serbische IT-Firmen entwickelten die App

Branko Ostić ist der Frontmann des Familienbetriebs. Neben Gurken werden auch Tomaten, Tabak, Meerrettich, Mais und Korn angepflanzt. „So haben wir über das ganze Jahr zu tun“, sagt er. Und berichtet bei einem Glas selbst gemachtem Tomatensaft, wie seine Eltern als Verlierer des wirtschaftlichen Umbruchs in Serbien zu Beginn des Millenniums ihre Jobs in einer Papierfabrik verloren und sich wieder der Landwirtschaft zugewendet hätten. Wie er das Agrarwirtschaftsstudium in Belgrad im siebten Semester abgebrochen hätte und ins Familiengeschäft eingestiegen sei. Wie sein vorsichtiger Vater vergebens versucht habe, die Ambitionen seines Sohnes zu drosseln. Das Bauerngut verfügt inzwischen über vier hochmoderne Traktoren mit Plattformen, auf denen bis zu 25 Erntehelferinnen und -helfer auf einmal liegen können, und einen GPS-gesteuerten Traktor mit Sprühgerät. Für die Anschaffungen müssen noch Kredite abbezahlt werden. Zeit bedeutet für Branko Ostić buchstäblich Geld.

Der junge Landwirt war deshalb froh, als im Vorjahr im Rathaus der nächstgrößeren Stadt Sremska Mitrovica die Website und die Android-App für die elektronische Anmeldung von Saisonkräften vorgestellt wurden. Die GIZ und die Nationale Allianz für lokale Wirtschaftsentwicklung NALED in Serbien hatten das Projekt im Auftrag des BMZ seit 2017 umgesetzt. Serbischen IT-Firmen entwickelten dafür eine spezielle Software, die dann der serbischen Steuerverwaltung übergeben wurde.

Martin Bošković ist eine von 150 Erntekräften, die in der Hochsaison auf dem Ostić-Hof arbeiten. Weil die Bedingungen stimmen, kommt er schon seit vielen Jahren dorthin.

Schnelle Anmeldung via Smartphone

Branko Ostić verwendete die App sofort, mit der die Anmeldung von Beschäftigten im Steueramt nicht mehr umständlich und zeitraubend war. Die Einführung der App hatte massive Auswirkungen auf die legale Anmeldung von Beschäftigten. Bis Januar 2019 arbeiteten rund 95 Prozent der über 80.000 Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in Serbien schwarz. Seit es die Möglichkeit gibt, sie einfach online zu regis­trieren, schnellten die Anmeldungszahlen praktisch über Nacht hoch. Bis September 2020 wurden mehr als 42.000 Saisonarbeiterinnen und -arbeiter angemeldet, die insgesamt an 1,2 Millionen Arbeitstagen beschäftigt waren; über 440 landwirtschaftliche Unternehmen verwenden bisher die Website und die App, die mit dem Steueramt verbunden sind. In Serbien gibt es inzwischen 97 Zentren für elektronische Anmeldung von Beschäftigten, dort werden Landwirte auch beraten. Seit das System besteht, haben landwirtschaftliche Betriebe mit umgerechnet über vier Millionen Euro an Steuergeldern und Beiträgen zur Sozialversicherung zum serbischen Staatshaushalt beigetragen.

MODELL FÜR DIE REGION

Serbien setzt auf Reformen, die den Beitritt zur Europäischen Union in der Zukunft erleichtern sollen. Ein transparenter, ­legaler Arbeitsmarkt mit sozialen Standards gehört dazu. Er stärkt Rechte von Arbeitnehmer*innen und sichert gleichzeitig dem Staat Steuereinnahmen, die dann in bessere Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger investiert werden können. Das elektronische System zur Beschäftigung von Saisonarbeitskräften ist ein Beispiel dafür, wie das funktionieren kann. Der vom BMZ finanzierte „Offene Regionalfonds für Südosteuropa – Modernisierung kommunaler Dienste“ der GIZ unterstützte die Entwicklung dieses digitalen Werkzeugs. Mit der einfachen Registrierung der Beschäftigten besteht ein Arbeitsvertrag, der Arbeitgebenden Legalität sichert. Die Arbeitnehmenden sind für jeden registrierten Arbeitstag automatisch sozialversichert und haben Anspruch auf Mindestlohn und andere gesetzliche Standards. Über die Plattform können auch Jobangebote und -nachfragen vermittelt werden.

Nach dem Erfolg in Serbien sind auch die restlichen Länder Südosteuropas an dem System interessiert, insbesondere Montenegro, Nordmazedonien und Albanien. Gleichzeitig wird geprüft, ob es auch in anderen Branchen eingesetzt werden kann. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Situationen wie infolge der Corona-Pandemie ist es wichtig, Zugang zu Arbeit zu erleichtern und gleichzeitig Steuereinnahmen zu sichern.

 

Kontakt Offener Regionalfonds für Südosteuropa:
Peter Wolf, peter.wolf@giz.de
 

Kontakt E-System Serbien:
Amira Omanovic, amira.omanovic@giz.de

Auch die Beschäftigten profitieren von der Anmeldung. Wenn sie legal arbeiten, haben sie Anspruch auf einen gesicherten Mindestlohn und eine Gesundheitsversicherung vor Ort. Der Arbeitgeber zahlt ihre Sozialversicherungen. „Mach die Arbeiter zufrieden – das lohnt sich für alle. Das habe ich in Deutschland gelernt. Statt Urlaub zu machen, habe ich deutsche Unternehmen aus dem Bereich der Landwirtschaft besucht“, sagt Branko Ostić.  

Der Landwirt ist schon wieder auf dem Sprung. „Gurken in Serbien wachsen drei bis vier Mal schneller als in Deutschland und gehören zu den besten in der Welt“, erklärt Ostić. Sollte er sich wegen einer technischen Panne, Mangel an Beschäftigten oder anderen Verzögerungen mit der Ernte verspäten, würde er viel Geld verlieren, weil „die Kleinsten am wertvollsten sind“. Warum er gerade auf Cornichons gesetzt hat? Weil das für einen serbischen Landwirt die einzige Möglichkeit sei, legal gutes Geld zu verdienen, erklärt er lächelnd.

aus akzente 3/20

Zu folgenden Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) der Vereinten Nationen trägt das Vorhaben bei: