Flüchtlinge im Nordirak

Ein neues Leben

Hunderttausende fanden in Flüchtlingslagern im Nordirak Schutz vor Krieg und dem Terror des sogenannten "Islamischen Staats". Eine Reportage aus Dohuk.

Text
Gabriele Rzepka
Fotos
Markus Kirchgessner

In der Nacht zum 3. August 2014 brach Nazrin Iljaz’ Welt zusammen. Die Truppen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) fielen in den Distrikt Sindschar im Norden des Irak ein, ermordeten die jesidischen Männer, verschleppten Frauen und Kinder, vergewaltigten. Wer konnte, floh. Iljaz harrte aus; sie hoffte bis zuletzt, dass die Terroristen nicht bis zu ihr vordringen würden. Schnell erlosch die Hoffnung. Die alleinerziehende Bäuerin nahm ihre sieben Kinder und flüchtete in die Berge. Fast monoton erzählt sie: „Von der Anhöhe habe ich gesehen, wie meine Freunde und Nachbarn gestorben sind.“ Auf einmal blitzt Wut in ihren Augen auf: „Einige nicht jesidische Nachbarn haben sich dem IS angeschlossen, meinen Hof und meine Wohnung geplündert.“ Leiser sagt sie: „Wir waren doch Nachbarn.“

Mitnehmen konnte Iljaz bei ihrer überstürzten Flucht fast nichts: Proviant, ein bisschen Goldschmuck und die Kleider, die sie und die Kinder am Leib trugen. Nach tagelangen Fußmärschen durch die Berge stieß die Familie auf kurdische Peschmerga-Kämpfer, die sie – wie Hunderttausende weitere Flüchtlinge – zur irakischen Grenze eskortierten. Hilfsbereite Bürger der Provinz Dohuk holten die erschöpften Menschen dort mit ihren Privatfahrzeugen, mit Bussen, Taxis und Lastwagen ab. Iljaz und ihre Kinder fanden in den ersten Wochen Unterschlupf in einer Schule. Die kurdische Regierung und die Bevölkerung versorgten sie mit Essen, Kleidung, Decken und Spielsachen. Seit Ende September 2014 lebt die achtköpfige Familie im Flüchtlingslager Shariya. Zwei Zelte bewohnt sie hier. 

Zusammenarbeit mit UNICEF und Welthungerhilfe

Nazrin Iljaz lebt mit ihren sieben Kindern im Flüchtlingslager Shariya in Dohuk im Nordirak. Dort sind sie gut versorgt. Auch ihre seelische Gesundung wird gefördert.
Nazrin Iljaz lebt mit ihren sieben Kindern im Flüchtlingslager Shariya in Dohuk im Nordirak. Dort sind sie gut versorgt. Auch ihre seelische Gesundung wird gefördert.

Shariya ist eines von elf Flüchtlingslagern in Dohuk, in denen die GIZ die Provinzregierung dabei unterstützt, die Not von Menschen wie Nazrin Iljaz zu lindern. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung baut die GIZ 14 Gemeindezentren, zehn Schulen, sieben Gesundheitsstationen und ein Krankenhaus. Zudem wurden rund 4.000 Bodenplatten für Flüchtlingszelte gelegt, entstanden Straßen und Systeme für die Wasserver- und Abwasserentsorgung. In Schulungen bereitet die GIZ die Verwalter der Flüchtlingslager auf ihre Aufgaben vor und bildet sie zu Streitschlichtern aus. Sie arbeitet dabei mit der Welthungerhilfe und UNICEF zusammen.

Rund 20.000 Menschen leben im Flüchtlingslager Shariya, insgesamt flohen seit Sommer 2014 binnen eines Jahres rund 550.000 in die Provinz Dohuk, die meisten aus Syrien und dem Irak. Um ihnen in den Camps Beschäftigung und Abwechslung zu bieten, sie auf andere Gedanken zu bringen, organisiert UNICEF im Auftrag der GIZ Fußballturniere und Lesungen. Hunderte Kinder nehmen an Theatergruppen teil, in jedem Lager erstellen Jugendliche eine eigene Zeitung. Drei mobile Kinos touren regelmäßig durch die Camps. „Als wir ankamen, gab es schon Wasser und Strom in unserem Zelt. Der Müll wird täglich abgeholt und wenn etwas nicht funktioniert, kümmert sich die Verwaltung sofort darum.“

Aufbau der Infrastruktur des Flüchtlingslagers

Ein Dach über dem Kopf, Wasser, Lebensmittel, Kleidung und sogar etwas Unterhaltung – die Familie ist mit dem Wesentlichen versorgt. Doch das Grauen im Kopf bleibt. Iljaz leidet unter Panikattacken, Schlafstörungen und Angstzuständen. Ihre Kinder schrecken nachts schreiend aus dem Schlaf. Hilfe findet die Mutter bei der Sozialarbeiterin Khoshi Zubeir im Gemeindezentrum des Lagers. Zubeir hört Iljaz geduldig zu und hat sie davon überzeugt, die zahlreichen Angebote des Gemeindezentrums wahrzunehmen. „Es ist wichtig, dass die Frauen und Mädchen beschäftigt sind, eine Struktur in ihren Tag bringen und sich so etwas wie Alltag einstellt.“ Ein Alltag auf Zeit.

Für Iljaz, die keine Schule besuchte und isoliert in den Bergen lebte, erschließt sich allmählich so etwas wie eine neue Welt: „Ich nehme an Gruppen teil und freue mich über all die Angebote. Ich kann mein Leben jetzt selbstständig planen.“ Sie besucht den Alphabetisierungskurs, einen Nähkurs und Informationsveranstaltungen. Andere Flüchtlinge beteiligen sich am Aufbau der Infrastruktur des Camps und erhalten dafür einen Lohn. Auch eine Anwältin steht den Besuchern der Gemeindezentren zur Seite. Sie hilft bei neuen Pässen, Heirats- oder Geburtsurkunden – wichtige Dokumente, die viele Menschen bei der Flucht zurückgelassen haben.

Gibt es eine Hoffnung auf Rückkehr? Offiziellen Angaben zufolge sind 38.000 Jesiden in ihre Heimat zurückgekehrt, seit die Stadt Sindschar im November 2015 vom IS befreit wurde. Doch die Heimat ist vermint und völlig zerstört. Für Nazrin Iljaz und ihre Kinder bleibt die Zukunft offen – trotzdem blicken sie mit neuer Zuversicht nach vorn.

Ansprechpartnerin: Sandra Albers sandra.albers@giz.de

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