Interview „Nicht Superwoman spielen“ Michelle Bachelet ist neue UN-Kommissarin für Menschenrechte. Zuvor war sie Verteidigungsministerin und anschließend Präsidentin ihres Heimatlandes Chile – jeweils als erste Frau in diesen Ämtern. Jüngeren Politiker*innen rät sie vor allem: Perfektionismus ablegen und nie den Humor verlieren. Interview: Friederike Bauer W eltweit überneh men mehr und mehr Frauen hohe politische Ämter. Wo stehen wir bei der Verteilung von Macht? Ich vergleiche das gerne mit Fußball: Frauen außen vor zu lassen, ist, als spiele man nur mit der halben Mannschaft – immer ein Nachteil. Dennoch ist es weiterhin ein Kampf, als Frau in die Politik zu gehen. Ich selbst habe das in Chile erlebt, aber es pas- siert auf der ganzen Welt. Nehmen Sie nur den letzten Präsidentschaftswahlkampf in den USA und einige der sexistischen Kom- mentare über Hillary Clinton. Man wird mit den verschiedensten Lügen konfrontiert. Aber dieser Preis ist nichts im Vergleich zur Befriedigung, die man spürt, wenn man das Leben von Menschen verbessern kann. Wenn Frauen an der Macht sind, regieren sie anders? Wenn eine Frau in die Politik geht, dann ändert sich die Frau. Wenn viele Frauen es tun, dann ändert sich die Politik. In Chile etwa hatten wir in den vergangenen Jahren eine Senatspräsidentin, weibliche Parteivor- sitzende, Gewerkschaftspräsidentinnen und Frauen in leitenden Funktionen im Bil- dungsbereich. Wir haben dadurch positive ) 2 3 . S ( A P D / P A / G I N E W H T E S : O T O F Veränderungen bewirkt. Einem UNDP-Be- richt zufolge schätzen die Chileninnen und Chilenen heute männliche und weibliche politische Führung gleichermaßen. Vor we- niger als einem Jahrzehnt waren noch 38 Prozent der Bürger*innen überzeugt, Män- ner seien bessere Politiker als Frauen. Sind Politikerinnen sozialer und weni ger korrupt – oder ist das ein positives Vorurteil? Ich weiß nicht, ob das stimmt; vermute eher, dass es – wie Sie es formulieren – ein „posi- tives Vorurteil“ ist. Zu den gängigsten Stereo- typen gehört die Vorstellung, dass Frauen we- niger egoistisch, wohltätiger, selbstloser sind und höhere moralische Ansprüche haben. In einem Bericht habe ich aber tatsächlich gele- sen, dass in Demokratien, in denen Korrup- tion stärker stigmatisiert ist als in anderen Staatsformen, Frauen Korruption negativer sehen als Männer und sich weniger an kor- rupten Machenschaften beteiligen. Werden Frauen nach den gleichen Krite rien beurteilt wie ihre männlichen Kol legen? Ich habe große Vorbehalte gegenüber Frauen erlebt. Sie werden häufig nach völlig irrelevanten Kriterien beurteilt. So hat mir einmal eine dänische Ministerpräsidentin erzählt, dass die Presse während ihres Wahl- kampfs vor allem die Größe ihrer Handta- sche thematisierte – anstatt auf ihre pro- grammatischen Inhalte einzugehen. Am dramatischsten aber ist, dass auch viele Frauen die Unterschiede in der Beurteilung nicht sehen. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos etwa traf ich erfolgreiche Business- frauen, die sagten: „Ich bin, wo ich bin, weil ich meine Arbeit gut mache. Dass ich eine Frau bin, hat damit nichts zu tun.“ Und ich antwortete ihnen: „Weil ich gute Arbeit geleis tet habe, war ich Präsidentin von Chile – obwohl ich eine Frau bin.“ Welchen „goldenen Rat“ geben Sie jungen Frauen, die in die Politik gehen möchten? Nicht Superwoman sein wollen, denn das endet unweigerlich in Frustration. Lieber bei jemandem Unterstützung suchen, auf den man sich verlassen kann. Bestimmt auf- treten, aber gleichzeitig die Kunst des Dia- logs beherrschen. Nie aufhören, wachsam zu sein; immer Augen und Ohren offen hal- ten. Zuhören, hingucken, aber vor allem handeln, wenn es nötig ist – möglichst mu- tig und großzügig. Denn das ist Politik: ein permanentes „unfertiges Projekt“, an dem Frauen sich beteiligen müssen. Und natür- lich: Immer versuchen, den Sinn für Humor nicht zu verlieren! — akzente 4/18 33