Zurück in die Zukunft fängnis der Roten Khmer, in dem Tausende Menschen gefoltert wur- den. Außerdem hat sie einen Mann interviewt, der die Machtergrei- fung durch das Terrorregime als Kind aus der französischen Bot- schaft heraus erlebte. Während er mit seiner Mutter das Land verlas- sen darf, muss sein Vater in Kambodscha bleiben und stirbt dort. „Das prägt ihn bis zum heutigen Tag“, sagt Socheata über ihren Pro- tagonisten. Es sind eindringliche Geschichten, die „Mapping Memories Cambodia“ (MMC) erzählt. Wer die App öffnet, sieht zunächst eine Landkarte. Der eigene Standort wird darauf mit einem blauen Punkt dargestellt. Gelbe Stecknadeln markieren Orte in der aktuellen Um- gebung, dahinter verbergen sich die Beiträge, die Socheata und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen erarbeitet haben. Da sind prominente Schauplätze wie der zentrale Markt in Phnom Penh, den die Roten Khmer in ein Vorratslager und Stallgebäude umfunktio- nierten. Die App beleuchtet aber auch unscheinbare Orte, etwa ei- nen heruntergekommenen Gebäudekomplex im Süden der Stadt, in dem vertriebene Künstlerinnen und Künstler nach dem Fall des Ter- rorregimes Zuflucht fanden. Das ist das Innovative des Projekts: Es möchte Nutzer*innen anhand heute noch sichtbarer Orte mit der Vergangenheit konfrontieren und dazu animieren, sich selbst ein Bild von den Schauplätzen zu machen. Durch die digitale Gestaltung wollen die Studierenden mit MMC vor allem junge Menschen erreichen. Anders als in Deutsch- land weiß die junge Generation in Kambodscha kaum etwas über die grausame Geschichte des eigenen Landes. Eine Studie der Uni- versity of California, Berkeley, kam 2009 zu dem Schluss, dass acht von zehn Kambodschaner*innen, die nach der Zeit der Roten Khmer geboren wurden, kein oder nur sehr wenig Wissen über das Regime haben. Diese junge Generation ist dabei, den Zugang zur Geschichte ihres Landes zu verlieren. Erst seit zehn Jahren sind die Roten Khmer landesweit Bestandteil des Schulcurriculums. Aber auch in den Familien wird kaum über die Schreckensherrschaft ge- sprochen. Zu tief sind die Wunden, zu groß ist die Scham. Eine Brücke zwischen den Generationen „Als ich klein war, dachte ich, die Roten Khmer sind eine Art Mär- chen“, sagt Socheata, die Studentin. „Meine Tante hat darüber Scherze gemacht, so als ob es nichts Schlimmes, nichts Schmerzhaf- tes wäre. Aber jetzt verspüre ich Mitgefühl. Ich bin traurig, was mei- ne Familie in der Vergangenheit durchmachen musste. Manchmal weine ich, weil sie so sehr gelitten haben.“ Das Projekt bringt So- cheata dazu, sich erstmals intensiv mit ihrer eigenen Familienge- schichte auseinanderzusetzen. Sie erfährt bei der Recherche, was ihre Familie unter den Roten Khmer erlebte. In dem radikalen System, in dem Geld und Eigentum verboten und Stadtbewohner in Gewalt- märschen aufs Land getrieben wurden, hungerten die Menschen – viele starben daran. Seit sie die App mitgestaltet hat, läuft die Studentin mit anderen Augen durch ihre Stadt. Sieht sie ein markantes Gebäude, stellt sie sich und anderen Fragen. In welchem Jahr wurde es errichtet? Wie wurde es unter den Roten Khmer genutzt? Was ist mit den Men- schen darin geschehen? „Ich spüre in mir die Verantwortung, Ge- akzente 3/19 15 20 JAHRE ZIVILER FRIEDENSDIENST Im November 2019 ist es 20 Jahre her, dass die ersten Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) ausgereist sind, um in Krisen- und Konfliktregionen Frieden zu fördern und Gewalt vorzubeugen. 1999 waren das ehemalige Jugoslawi- en, Guatemala, Rumänien, Simbabwe und die Palästinensi- schen Gebiete die Ziele. Seitdem haben sich 1.400 Fachkräfte in knapp 60 Ländern eingesetzt. Das Konsortium ZFD besteht aus neun deutschen Friedens- und Entwicklungsorganisatio- nen – die GIZ ist als einzige staatliche Institution im Auftrag des BMZ von Beginn an dabei. Aktuell arbeiten mehr als 100 ZFD-Fachkräfte der GIZ in über 20 Ländern mit Partnerorgani- sationen zusammen, je nach Land in unterschiedlicher Art. In Kambodscha etwa soll die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Aufbau demokratischer Strukturen fördern. In Guatemala werden Gewaltopfer beim Kampf für ihre Rechte unterstützt. In Westafrika steht die friedliche Konfliktlösung zwischen Viehhirten im Zentrum. Mit dem Zivilen Friedensdienst übernimmt Deutschland Verantwortung in der Welt, wenn es darum geht, Konflikte zu entschärfen und Stabilität zu fördern. schichte zu dokumentieren“, sagt sie. „Wir sind wie eine Brücke zwi- schen der alten und jungen Generation. Und ich will nicht, dass es heißt: Ihr habt euch nicht um die Geschichte gekümmert.“ Wenn Sophiline, die Künstlerin und Zeitzeugin, davon hört, fühlt sie sich in ihrer Arbeit bestätigt. Unter einem säulengestützten Dach der Kunstschule, einige Meter von ihr entfernt, studiert eine Gruppe junger Männer und Frauen den traditionellen Khmer-Tanz ein. Sie tragen Röcke und bunte Tücher. Unter den Anweisungen ei- nes Lehrers bewegen sie ihre Hände im Rhythmus eines Sprech- chors. Sophiline blickt zu den Studentinnen und Studenten, ein Wi- derschein ihrer eigenen Vergangenheit. „Es ist wichtig, dass es dieses Projekt gibt. Wir Alten müssen mehr über die Vergangenheit erzäh- len.“ Sie hält inne. „Aber man muss auch vorwärtsgehen. Stärke aus der Vergangenheit ziehen. Du musst deine Energie darauf verwen- den, etwas Neues und Produktives zu schaffen.“ In zwei Tagen wird ihr Ensemble den nächsten Auftritt haben. Das Thema: Lassen sich Kreisläufe von Rache und Gewalt überwinden? Eine Frage, die sich viele stellen werden, die mit „Mapping Memories Cambodia“ in die Vergangenheit Kambodschas eintauchen. — JOHANNES TRAN ist Jahrgang 1996, studiert Südostasienwissen- schaften in Hamburg und arbeitet u. a. für die ARD. Von MMC erfuhr er auf ei- ner Reise durch Kambodscha. LIM SOKCHANLINA ist kambod- schanischer Fotograf und Künstler mit Fokus auf Porträt- und Dokumentarfo- tografie. Er hatte u. a. Ausstellungen in Singapur, New York und Berlin.